Start Meinung Daedalic-Übernahme: Der ganz normale Wahnsinn (Fröhlich am Freitag)

Daedalic-Übernahme: Der ganz normale Wahnsinn (Fröhlich am Freitag)

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Daedalic-Gründer Carsten Fichtelmann verkauft sein Unternahmen an den französischen Publisher Nacon (Foto: Daedalic Entertainment)
Daedalic-Gründer Carsten Fichtelmann verkauft sein Unternahmen an den französischen Publisher Nacon (Foto: Daedalic Entertainment)

Das Hamburger Studio Daedalic Entertainment wird für über 50 Millionen € nach Frankreich verkauft – vorläufiger Höhepunkt einer unerwarteten Reise.

Verehrte GamesWirtschaft-Leser,
verehrte GamesWirtschaft-Leserin,

seit Mitte Januar läuft in der Redaktion die Operation „Branchen-Inventur 2022“. Der Plan: die Erhebung von Kennzahlen der 100 größten deutschen Studios, Publisher und Niederlassungen – aktuelle Belegschaft, Personalentwicklung, Ausbildungs-Situation, all sowas.

Manches lässt sich aus Geschäftsberichten und Präsentationen herauskeltern, Anderes ist streng gehütetes Betriebsgeheimnis. Dann beginnt die journalistische Kärnerarbeit: Vielfach müssen die Daten nämlich von den jeweiligen Headquarters am anderen Ende der Welt beschafft oder freigegeben werden – ein zäher, mühseliger Prozess, der nach einigen Wochen auch mit exakt null Erkenntnissen enden kann.

Soviel Ehrlichkeit sei an dieser Stelle erlaubt: In manchen Momenten entwickelt sich ein gewisser Selbsthass, warum man sich auf dieses Höllenprojekt überhaupt eingelassen hat.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

Dass konkrete Zahlen, Daten oder Stellungnahmen immer seltener auf dem kleinen Dienstweg zu bekommen sind, hat auch damit zu tun, dass die deutsche Videospiel-Industrie zunehmend von internationalen, meist börsennotierten Mutterkonzernen durchwirkt ist, die ein Unternehmen nach dem anderen erwerben.

Die Berichtslinien starten also immer öfter in einem Gewerbegebiet in der Eifel, im Fränkischen, im Schwarzwald, an Alster und Elbe, in Köln-Mülheim oder am Berliner Spree-Ufer – und enden dann in Paris, Stockholm, Shanghai, Göteborg, Tel Aviv, Shenzen, im saudi-arabischen Riad oder sonst wo.

In den vergangenen vier Wochen hat es sich zugetragen, dass weitere Linien gezogen wurden: einmal von der Düsseldorfer City (Astragon Entertainment) ins englische Wakefield (Team 17), zum anderen vom Hamburger Stadtteil Groß Borstel (Daedalic Entertainment) zu einem Vorort der nordfranzösischen Stadt Lille (Nacon).

Käufer in beiden Fällen: Aktiengesellschaften, die der Kapitalmarkt mit reichlich liquiden Mitteln für Akquisitionen ausgestattet hat.

Das Echo auf die Daedalic-Eilmeldung fiel erwartungsgemäß besonders laut aus. Denn Daedalic-Titel wie Deponia (als Entwickler) oder Shadow Tactics (als Publisher) gehören zum deutschen Games-Kulturgut, ebenso wie Die Siedler, Anno oder Crysis. Oder wie es Daedalic-Gründer Carsten Fichtelmann einmal formulierte: „Wir haben etwas geschaffen, das die Zeit oder die Vergesslichkeit der Menschen nicht mehr so leicht kaputt bekommen wird.“

Bei keinem deutschen Entwickler stehen so viele Computerspielpreis-Trophäen in der Lobby – zwangsläufig errungen mit viel Leidenschaft, aber eben auch mit innerem und äußerem Druck, der Leiden schafft. Nicht alle, die in den vergangenen 15 Jahren für Daedalic tätig waren, blicken daher angemessen fröhlich auf diesen Lebensabschnitt zurück. Umgekehrt stimmt: Nicht wenige Branchen-Karrieren haben ihren Ursprung bei Daedalic.

Es gab Zeiten, in denen das Unternehmen fast doppelt so viele Mitarbeiter beschäftigte wie jetzt – derzeit sind es 87. Die Manpower wurde gebraucht für eine „gigantische Releasewelle“ inklusive mehrerer „Games mit Hollywood-IPs“ – Banken stellten dafür Kreditlinien in zweistelliger Millionenhöhe zur Verfügung. Nicht alle Wetten gingen auf: Filialen in München und Düsseldorf wurden eröffnet und wieder geschlossen. Auf kleine und große Flops folgten kleine und große Kündigungswellen – begründet mit dem „eisigen Wind des Marktes“. Die Situation sei „bescheiden und düster“, hieß es.

Teile der Belegschaft hätten sich einen transparenteren, proaktiveren Umgang mit solchen und anderen Entwicklungen gewünscht. Fichtelmann ficht das bedingt an: „Manchmal ist das auch besser für sie, weil niemand ständig hören will, dass es ein dauerhafter Ritt auf der Rasierklinge ist. Aber ich bin sehr offen, wenn man mich fragt, wie es läuft.“

Beim zwischenzeitlichen Daedalic-Mutterkonzern Bastei Lübbe AG wuchs die Nervosität entlang der Sonderabschreibungen infolge einer – O-Ton„desaströsen Entwicklung“ und „fehlgeschlagenen Strategie“. Aktiv wurde nach einem Käufer gefahndet. Die Daedalic-Gesellschafter nahmen Geld in die Hand und holten sich die Mehrheit via Management Buyout zurück – mit Ausnahme einer 10-Prozent-Tranche, von der sich Lübbe erst kürzlich trennte und damit das Wir-machen-auch-was-mit-Games-Kapitel endgültig beendete.

Keine zwei Jahre ist es jetzt her, dass der Kölner Verlag das Geschäftsmodell der Hamburger Spieletochter als „nicht zukunftsfähig“ abwatschte.

Bei Nacon indes hält man die (wieder) profitabel arbeitende Daedalic Entertainment GmbH für sehr wohl zukunftsfähig. Anfang 2021 setzten die Franzosen erstmals Chips auf Daedalics Mittelerde-Projekt The Lord of the Rings: Gollum; jetzt – ein Jahr später – ruft Nacon eine Bewertung von 53 Millionen € für 100 Prozent der Anteile auf.

Mit dieser Entwicklung war im Mai 2020 nicht zwingend zu rechnen. Auf meine Frage, wie es um die Zukunft seines Unternehmens bestellt sei, sagte Fichtelmann: „Das ist das Schöne am Leben. Wenn alle gesund bleiben, wird man darauf in drei bis vier Jahren eine Antwort haben. Unser Ziel ist offenkundig, dass man dann sagen wird: ‚Es war Wahnsinn und riskant, die Anteile zurückzukaufen – aber es war der richtige Schritt.’“

Seit Mittwochabend ist klar: Bei allem Wahnsinn scheint es der richtige Schritt gewesen zu sein. Mit dem Ergebnis, dass wir demnächst ein inhabergeführtes Games-Unternehmen weniger im Land haben – wenngleich die Geschäftsführung an Bord bleibt und mit Blick auf performance-abhängige Schlussraten ein vitales Interesse daran hat, dass Gollum & Co. funktionieren.

Überhaupt schmilzt die Zahl der ‚echten‘ Indies wie Cornetto im Freibad. Seit unserer letzten Erhebung konnten interessierte Investoren unter anderem Yager, Whow Games, Deck 13, Headup, Sandbox Interactive und eben Astragon und Daedalic von ihrer Liste streichen. Andere gaben Teile des Geschäftsbetriebs ab oder holten sich Anteilseigner an Bord.

91 Prozent unserer diesjährigen GamesWirtschaftsWeisen tippten folgerichtig darauf, dass bis Silvester 2022 mindestens zwei der hiesigen Top 50 Spiele-Studios übernommen werden. Mit der Nacon-Osterweiterung via Daedalic ist diese Prognose bereits jetzt eingetroffen.

Und wir haben erst Mitte Februar.

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft

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