Wer oder was ist eigentlich diese Gamerszene, von der man in letzter Zeit so viel hört (und nicht nur Gutes)? Glasklare Antwort: Kommt drauf an.
Verehrte GamesWirtschaft-Leser,
beim Social-Media-Team der ARD weiß man sehr genau, womit man ‚diese jungen Leute‘ kriegt: 26 Stunden vor Ausstrahlung des „Bericht aus Berlin“ am Sonntagabend brachte der Sender einen 30sekündigen Ausschnitt eines Interviews mit Innenminister Horst Seehofer (CSU) in Umlauf. Die Postings des Facebook-Kanals dieser Sendung kommen eher selten über zweistellige Werte hinaus – in diesem Fall aber: mehr als 2.500 Kommentare, über 2.000 geteilte Beiträge. Bei Twitter waren #Gamerszene und #Seehofer das Top-Thema über das komplette Wochenende.
Das ARD-Hauptstadtstudio war zuvor mitten in Berlin auf pures journalistisches Gold gestoßen: Denn Seehofer hatte mal eben die Killerspiel-Debatte reaktiviert – indem er sich nach den tödlichen Schüssen von Halle zur Aussage verstieg, potenzielle Täter würden sich Games geradezu zum Vorbild nehmen und zur Anschlagsplanung nutzen. Dabei gibt es bis zum heutigen Tage exakt null öffentlich gewordene Erkenntnisse zur Games-Nutzung des Beschuldigten.
Was „das Netz“ noch viel mehr triggerte, war Seehofers Ankündigung, man müsse die „Gamer-Szene“ stärker in den Blick nehmen.
Moment – harmlose „Fortnite“-Spieler im Visier der Sicherheitsbehörden?
Wie gesagt: pures Gold.
Das hatte auch die Bild.de-Redaktion erkannt, die noch am Tag nach der Ausstrahlung besorgt titelte, ob die „Gamerszene voll von Neonazis“ sei. Diese Zuspitzung war selbst dem live zugeschalteten bayerischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zu albern – einem Hardliner, der einst ein Herstellungsverbot für Ego-Shooter auf den Weg brachte und dessen Wikipedia-Eintrag an seine mittlerweile gelöschte Pressemitteilung von 2009 erinnert, in der allen Ernstes wortwörtlich stand: „In ihren schädlichen Auswirkungen stehen sie (gemeint sind „Killerspiele“, Anm. d. Red.) auf einer Stufe mit Drogen und Kinderpornografie, deren Verbot zurecht niemand in Frage stellt.“
Dass Seehofers Statement überhaupt so große Wellen geschlagen hat, liegt natürlich in erster Linie am Inhalt, aber eben auch an der Vokabel „Gamerszene“.
Erstens ist das Wort „Gamer“ für politische und gesellschaftliche Debatten ohnehin komplett ungeeignet, weil jeder etwas anderes darunter versteht. Nämlich das, was er darunter verstehen will. Der Branchenverband subsumiert darunter faktisch jeden – Windows-Solitaire aufwärts. Der zuständige Fachbegriff lautet „Framing“. Und das funktioniert ziemlich gut: Die Aussage, dass fast „jeder zweite Deutsche“ ein „Gamer“ sei, ist Bestandteil ungefähr jedes Grußwortes auf Podien, Preisverleihungen und Messen.
„Jeder zweite Deutsche ist ein Gamer“ hat „Games sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen“ auf dem Bullshit-Bingo-Schein abgelöst.
Doch wie kommt die kolportierte Zahl von 34,3 Millionen „Gamern“ überhaupt zustande? Die vom Verband beauftragte GfK hat all jene ein- und hochgerechnet, die regelmäßig oder gelegentlich an PC, Konsole oder Smartphone spielen. Das entspricht zwar eher 40 als 50 Prozent, aber: geschenkt. Viel interessanter: Was heißt eigentlich „regelmäßig“? Täglich? Einmal die Woche? Mehrmals pro Woche? Meine Nachfrage ergab: „regelmäßig“ bedeutet in der GfK-Welt „mehrmals monatlich“.
Wer also alle zwei Wochen „Candy Crush Saga“ oder „Gardenscapes“ anwirft, ist statistisch im selben Topf wie, sagen wir, ein hauptberuflicher Vollzeit-Games-YouTuber wie Gronkh.
Soviel zum sogenannten „Gamer“. Gleiches gilt im Übrigen für ähnlich wattige Begriffe wie „eSports“ – je nachdem, wen Sie fragen und welche Agenda er verfolgt, kriegen Sie eine passgenaue Definition.
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Und dann ist da noch die „Szene“. Beim Game-Verband spricht man wohlweislich nicht von Szene, sondern von einer ungleich fröhlicher klingenden „Community“. Denn „Szene“ weckt unschöne Assoziationen mit anderweitigen, nicht zwingend positiv besetzten Milieus: Drogen-Szene, Neonazi-Szene, Rocker-Szene. Ich habe dazu keine empirischen Daten, würde aber vermuten, dass sich Freunde gepflegter Riffs auch eher ungerne zur „Metal-Szene“ rechnen.
Der heftige, öffentliche Gegenwind hat jedenfalls dafür gesorgt, dass die kurz, aber heftig lodernde Killerspiele-Revival-Debatte schon nach drei, vier Tagen wieder eingefangen war. Noch am heiligen Sonntag – wenige Stunden vor der ARD-Sendung – musste Seehofers PR-Feuerwehr ausrücken, um den Social-Media-Großbrand mit einem einordnenden Statement zu löschen. Die restlichen Glutnester wurden in den darauf folgenden Tagen von Verbänden und Digitalpolitikern ausgetreten, die das erzählten, was ihre aufrichtig empörten Zielgruppen hören wollen. Kein Generalverdacht, keine Pauschalisierung, et cetera.
Jetzt, da sich der Rauch vorerst verzogen hat, bleibt jene Erkenntnis, auf die Seehofer in all seiner großartigen und unvergleichlichen Weisheit angeblich von Anfang hinaus wollte: Nämlich, dass sich die Sicherheitsbehörden bislang offenbar zu wenig um einzelne Online-Hinterzimmer gekümmert haben, in denen sich Menschen unbemerkt radikalisieren. Oder wie es Holger Münch, Chef des Bundeskriminialamts, formulierte: Seitdem das heftig umstrittene Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) in Kraft ist, suchen sich Kriminelle eben Räume, die weniger reguliert und überwacht sind – und das sind nun mal auch: Games.
Immerhin: Seehofer hat es – wenn auch unfreiwillig – geschafft, dass in der Gamerszene Gaming-Community eine lebhafte und überfällige Debatte in Gang gekommen ist, was an Alltags-Hass, -Hetze, -Rassismus, -Antisemitismus und -Homophobie in Computerspiele-Foren, -Chats, -Livestreams und -Kommentarspalten tagsüber toleriert wird.
Und für diese Sensibilisierung muss man dem Innenminister fast dankbar sein.
Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen
Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft
Alle Folgen der Kolumnen-Reihe finden Sie in der Rubrik „Meinung“.