Start Politik Nach Anschlag in Halle: Seehofer will „Gamer-Szene“ beobachten

Nach Anschlag in Halle: Seehofer will „Gamer-Szene“ beobachten

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Nach dem Anschlag von Halle will Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die
Nach dem Anschlag von Halle will Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die "Gamer-Szene" stärker in den Blick nehmen (Foto: BMI / Henning Schacht)

Bundesinnenminister Horst Seehofer glaubt zu wissen, woraus der Attentäter von Halle seine Inspiration zog – und will die „Gamer-Szene“ stärker in den Blick nehmen.

Update vom 13. Oktober 2019 (16 Uhr): Als Reaktion auf die Kritik gerade aus den sozialen Medien hat das Bundesinnenministerium via Twitter ein weiteres Statement von Innenminister Seehofer verbreitet, das die ursprüngliche Position deutlich abschwächt und einen anderen Fokus setzt. Darin heißt es: „Wir prüfen derzeit alle Facetten, wie Rechtsextremismus besser bekämpft werden kann. Wir sehen, dass Rechtsextremisten das Internet und auch Gaming-Plattformen als Bühne für ihre rechtswidrigen Inhalte missbrauchen. Ob analog oder digital: Wir wollen Rechtsextremisten überall dort bekämpfen, wo sie aktiv sind.“

Update vom 13. Oktober 2019 (11:45 Uhr): Vom Branchenverband Game und führenden Oppositionspolitikern gibt es inzwischen Reaktionen auf das Seehofer-Interview.

Meldung vom 13. Oktober 2019 (10 Uhr): Nach dem gescheiterten Massenmord in einer Synagoge am 9. Oktober in Halle und der anschließenden Ermordung zweier zufälliger Passanten durch einen 27jährigen stehen die Ermittlungen zwar erst am Anfang – doch die politische Bewertung und Aufarbeitung hat bereits wenige Minuten nach den Ereignissen eingesetzt.

Die rechtsextremistischen, antisemitischen Motive sind offensichtlich, auch der konkrete Ablauf des Anschlags wurde bereits minutiös rekonstruiert. Seit Mittwoch dreht sich die öffentliche Debatte daher um die Frage, wie sich der Attentäter unbemerkt radikalisieren und vorbereiten konnte und wodurch er zur Aus- und Durchführung seiner Pläne inspiriert wurde.

Eine vermeintliche Antwort kommt von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der die „Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen will“. Das Problem sei „sehr hoch“: „Viele von den Tätern oder potenziellen Tätern kommen aus der Gamer-Szene“, so Seehofer – ohne konkrete Details zu nennen, worauf er diese Einschätzung stützt. „Manche nehmen sich Simulationen geradezu zum Vorbild.“ Man müsse genau hinschauen, ob es noch ein Computerspiel ist, eine Simulation – oder eine verdeckte Planung für einen Anschlag. Aus dem Video geht allerdings nicht hervor, welche konkrete Frage dem Innenminister gestellt wurde.

Die Stellungnahme stammt aus der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“, deren Redaktion den 30sekündigen Interview-Ausschnitt aus der Sendung vom heutigen Sonntag (13. Oktober, 18:30 Uhr, Free-TV und Livestream) vorab in sozialen Medien veröffentlicht hat – und damit zuverlässig die Reaktionen aus dem Games-Umfeld triggert. Unter dem Hashtag #Seehofer reagieren die Computerspiele-Fans entsetzt, dass die für überwunden geglaubte Killerspiel-Debatte wieder aufflammt. Unter anderem haben prominente YouTuber wie Felix von der Laden, Alex Böhm, LeFloid, Rezo, Pandorya, MrMoreGame, PietSmiet und Gronkh wahlweise drastisch oder sarkastisch auf das ARD-Video reagiert.

Tatsächlich erinnert der live bei Twitch übertragene Anschlag in seiner Inszenierung und Kommentierung an ein Letsplay eines Ego-Shooters. Zu dieser Einschätzung gelangt beispielsweise eine ausführliche Analyse von SPIEGEL ONLINE. Auch das parallel zur Tat veröffentlichte Bekennerschreiben des Rechtsextremisten ist mit Games-Anleihen gespickt: Die präzise Auflistung der verwendeten Waffensysteme inklusive selbst ausgedachter Achievements wecken zwangsläufig Erinnerungen an Komplettlösungen, wie sie zu populären Spielen veröffentlicht werden.


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Basierend auf diesen Informationen hatten Kriminologen bereits am Tag des Anschlags Computerspiele-Anleihen ausgemacht und von einer „Gamifizierung des Terrorismus“ gesprochen. Chat-Räume von Online-Games böten zudem eine anonyme Plattform zum Austausch rechtsradikaler Gruppen. Für Sicherheitsbehörden handelt es sich um eine Art Blackbox, weil Games ebenso wie Online-Händler vom umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ausgenommen sind – ein Umstand, auf den auch Grünen-Politikerin Renate Künast via Twitter hinweist. Plattformen wie Twitter, Facebook und YouTube müssen Nutzer-Meldungen auf potenziellen Gefährdungen reagieren, indem beispielsweise Hasskommentare und strafbare Inhalte gelöscht oder gesperrt werden. Das Gesetz ist seit gut zwei Jahren in Kraft.

Zur Stunde ist unklar, ob und in welchem Umfang der Attentäter überhaupt Computerspiele genutzt hat, wenngleich unter anderem Aussagen des Vaters auf eine intensive Nutzung hindeuten. Dass sich der Fokus, anders als bei vorherigen Amokläufen, nicht auf die Waffen-Lobby richtet, liegt daran, dass die verwendeten Gewehre mutmaßlich eigenhändig via 3D-Drucker und Internet-Anleitung gebaut wurden.

Nach Anschlag in Halle: Seehofer will „Gamer-Szene“ in den Blick nehmen

Seehofer ist nicht der erste hochrangige Politiker, der einen Computerspiele-Zusammenhang mit dem Anschlag in Halle herstellt. Bereits in der ZDF-Sendung „Maybritt Illner“ am 11. Oktober hatte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Hasseloff (CDU) die Frage in den Raum geworfen, inwieweit der Attentäter „überhaupt noch in der Lage gewesen sei, in seinem isolierten Dasein zu unterscheiden zwischen einer virtuellen Wirklichkeit und einer realen Wirklichkeit – zwischen dem, was in seinen Computerspielen abgeschossen wird und dem, was er wirklich als Menschen abgeschossen hat.“

Die Stellungnahmen zeigen, dass die Computerspiele-Aversion insbesondere bei führenden Politikern innerhalb der Unions-Parteien weiterhin stark verwurzelt ist. Vor drei Jahren hatte Seehofers Vorgänger Thomas de Maizière (CDU) während einer Pressekonferenz zum Amoklauf in München das „unerträgliche Maß gewaltverherrlichender Spiele“ kritisiert. Ähnlich geht die Argumentation des bayerischen Innenministers: Am Dienstag, also einen Tag vor dem Anschlag in Halle, hat Joachim Herrmann (CSU) in einem GamesWirtschaft-Interview seine Ablehnung gegenüber Gewaltspielen bekräftigt. Dies gelte vor allem für Games, in denen sich der Spieler in die Rolle eines Rechtsbrechers und Straftäters begebe „und für das Killen möglichst vieler Menschen belohnt wird“, so Herrmann wörtlich.

Die Reaktionen aus der Bundes- und Landes-Politik sind zweifellos ein Indiz dafür, dass sich die Computerspiele-Industrie und deren Nutzer auf ungemütliche Wochen einzurichten haben. Die Debatte hat möglicherweise auch Auswirkungen auf das Schicksal der Computerspiele-Förderung im Bundeshaushalt 2020 – Stichtag ist der 14. November.