Neunte Folge unserer Auswanderer-Serie „Tschö Germany“: Als Tuning-Experte für Benutzeroberflächen verleiht Marc Sodermanns der Rennspiel-Neuheit „Need for Speed Heat“ den letzten Schliff.
Knapp eineinhalb Autostunden südwestlich von London liegt die heimliche britische Games-Hauptstadt, die auf eine lange und stolze Historie zurückblickt: Vor mehr als 30 Jahren hat in Guildford ein gewisser Peter Molyneux mit Bullfrog eines der einflussreichsten Studios gegründet. Seitdem haben sich dort viele kleine und große Games-Unternehmen niedergelassen, allen voran die UK-Zentrale von Electronic Arts samt der Studios Criterion („Burnout“-Serie“) und Ghost Games („Need for Speed“-Serie).
In Guildford lebt und arbeitet auch Marc Sodermanns. Wie gut der Senior UX Experience Designer seinen Job erledigt, lässt sich schon in Kürze, nämlich am 8. November 2019, erfahren – und zwar buchstäblich. Denn Sodermanns ist Teil des Teams von „Need for Speed Heat“, das kurz vor der Gamescom 2019 angekündigt wurde. Als UX-/UI-Experte sorgt Sodermanns dafür, dass sich alle Funktionen des Rennspiels schnell erlernen und bequem ansteuern lassen. Das UX steht für „User Experience“, also die gesamte Nutzer-Erfahrung, das UI für das „User Interface“, also Menüs und Steuerung.
Sein Einstieg in die Spielebranche ist sieben Jahre her: 2012 hat Sodermanns bei Funatics Software unter anderem an Browserspielen wie „Cultures Online“, „UFO Online“, „Panzer General Online“ und „Wickie Online“ gearbeitet. Über Funatics führte sein Weg zu Ubisoft, wo er als Technial UI/UX Designer an Projekten wie „Skull and Bones“ und „Might and Magic Heroes Online“ mitwirkte. Nach einem kurzen Ausflug in die Werbebranche heuerte er bei Digamore Entertainment („Football Empire“) an, ehe er Anfang 2019 zu Electronic Arts ins Ausland zu Electronic wechselte.
Den GamesWirtschaft-Lesern gewährt er per „Tschö Germany“-Fragebogen Einblicke in sein neues Leben.
Marc Sodermanns: „Engländer verpassen keine Gelegenheit, um Schlange stehen zu können.“
Immer wieder schmunzeln muss ich über folgendes englische Wort:
Wort: Superfluous. Das bedeutet so viel wie unnötig, überflüssig.
Satz: Wenn man sich in England grüßt, fragt man „How are you doing?“ – und Engländer antworten in der Regel mit „Not too bad“. Da hatte ich zu Beginn immer das Gefühl, dass es meinem Gegenüber nicht so gut geht. Übersetzt würde es soviel bedeuten wie „Ging mir schon schlechter“ oder „Kann mich nicht beklagen“ – bei uns wäre das ja eher negativ behaftet, aber hier ist das echt eine Standard-Antwort.
Das am wenigsten zutreffende Klischee über Guildford lautet:
Eher generell England: Dass es immerzu regnet und die Engländer unfreundlich wären. Beides trifft definitiv nicht zu. Letzteres sogar im Gegenteil: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Engländer sehr höflich, respektvoll und sehr hilfsbereit sind. Gut, vielleicht nicht zwingend im Fußballstadion …
Hingegen trifft folgendes Klischee über Stadt und Region definitiv zu:
Nicht über die Stadt, sondern über das Land: Teekultur. “Tea time is a thing”. Nur die Iren übertrumpfen die Höhe des jährlichen pro-Kopf Konsums als Teetrinker-Nation. Trotzdem bringen sie mich nicht von meinem Kaffeekonsum weg, ganz im Gegenteil: In Guildford und London gibt es eine sehr gute Kaffeekultur und Kaffeeläden.
Ach ja, die Engländer verpassen keine Gelegenheit, um Schlange stehen zu können. Ob an Bushaltestellen, in Restaurants oder Supermärkten, selbst beim Friseur: Die Engländer lieben es, Schlange stehen zu dürfen. Und das Ganze verläuft absolut diszipliniert.
Noch immer nicht daran gewöhnt habe ich mich daran, dass in Guildford …
… die Autos auf der anderen Seite fahren, es in jedem Pub anderes Bier gibt und die englische Küche einfach nicht schmeckt. Sorry UK, Engländer haben einfach nicht die Kunst der Gewürze entdeckt. Dafür kann man hier aber fantastisch die ausländische Küche genießen, wie etwa indisch, thailändisch, italienisch etc.
Nicht genug bekommen kann ich von folgender englischen Spezialität:
Nicht eine spezielle Mahlzeit, aber ich liebe die Vielseitigkeit an guten Restaurants in London.
Die wenigsten dürften wissen, dass in Guildford …
… die Universität zu den Top 10 der britischen Universitäten gehört. Und dass Lutwidge Dodgson, besser bekannt als Lewis Carrol, „Through The Looking Glass“ während seines Aufenthalts in Guildford schrieb.
Und obwohl Guildford eine Kathedrale hat, ist es keine Stadt. Im Jahr 2002 beantragte Guildford den Status einer Stadt, wurde aber abgelehnt. Zudem sind hier viele Studios beheimatet, wie Ubisoft, Epic Games, Supermassive Games etc. Peter Molyneux stammt zudem aus Guildford und hat sein erstes Studio „Bullfrog Games“ hier gegründet.
Der aus meiner Sicht größte Unterschied zwischen deutschen und britischen Studios besteht darin:
So riesig ist der Unterschied nicht. EA ist natürlich eine große, renommierte Firma mit guten Budgets, um große Projekte zu stemmen. Durch die Förderung und Akzeptanz des Landes Großbritannien kommen Studios hier gut an qualifiziertes und professionelles Personal und man arbeitet mit sehr kreativen Menschen zusammen.
Die Hierarchien sind hier ebenfalls sehr flach. Zudem schafft es EA, ein sehr gutes Arbeitsklima zu schaffen. Hier wird sehr stark darauf geachtet, dass die Mitarbeiter sehr respektvoll miteinander umgehen und das führt dazu, dass studio-übergreifend die Mitarbeiter sehr hilfsbereit sind. EA bietet eine sehr gute Work/Life balance und viele Unternehmungen und ist sehr um seine Mitarbeiter bemüht und engagiert, so dass die Mitarbeiter hier motiviert an dem Projekt arbeiten.
Von England könnte das Games-Entwicklerland Deutschland Folgendes lernen:
Electronic Arts, aber auch andere englische Studios, bieten sehr gute Job-Pakete, die sehr viele Benefits beinhalten, wie etwa kostenloses Fitnessstudio, Zusatzversicherungen, pension rates (Altersvorsorge, Anm. d. Red.), Essensgutscheine, Fahrrad- und Bahn-Vergünstigungen, zudem ein jährliches Bonus-System – und nicht selten erhalten Mitarbeiter Aktienanteile der Firma.
Zudem hat EA den kompletten Umzug aus Deutschland organisiert und für einen reibungslosen Start in England gesorgt, indem mir jemand zur Seite gestellt wurde, der mir bei meiner Wohnungssuche sowie administrativen Dingen geholfen hat.
Umgekehrt könnte sich englische Studios von deutschen Spiele-Machern abgucken …
Ich weiß nicht, ob man das nur auf das Land spezifizieren kann. Jedes Studio macht Dinge besser oder schlechter und im Endeffekt kann man Learnings aus allen Studios ziehen, anstatt es auf Länderebene zu sehen.
Meiner Meinung nach darf es manchmal etwas „geordneter“ und „prozessorientierter“ ablaufen, aber da spricht dann die deutsche Seite aus mir.
Was aber definitiv besser läuft ist, dass man im Vorfeld nicht alles „tot“ diskutiert, sondern mehr „hands-on“ arbeitet, man also Dinge probiert und diese auch verwirft. Das kommt gerade meiner „Lean UX“-Mentalität sehr entgegen. Hypothesen entwickeln, schnell testen und darauf weiter iterieren oder verwerfen.
Allen, die mit einem Wechsel in die britische Gamesbranche liebäugeln, möchte ich Folgendes mit auf den Weg geben:
Tut es! Natürlich ist solch ein Schritt eine Herausforderung, aber eben auch ein Abenteuer. Ich jedenfalls kann nur sagen, dass man hier sehr viel Erfahrung sammeln kann und EA eine sehr gute Option bietet, sich weiterzubilden und sich vor allem beruflich weiter zu entwickeln und Karriere zu machen. Zudem erweitert man seinen Horizont. Man sollte sich aber vorab gut informieren, falls dies nicht ohnehin über die Firma selbst passiert.
Ein paar Tipps: Je näher man an London wohnt, desto teurer. Die Miete ist schon exorbitant hoch, ebenso Strom-, Wasser- und Heizkosten. On top kommt noch ein sogenannter council tax (Gemeindesteuer). Im Gegensatz zu Deutschland schließt man auch zeitlich befristete Mietverträge ab. In der Regel betragen diese ein Jahr, während dessen man nicht flexibel kündigen kann. Eine Verlängerung ist natürlich immer möglich.
Das Leben vor Ort – zumindest in Guildford – ist ein wenig teurer als Deutschland, aber nicht eklatant. Natürlich muss man die Brexit-Entwicklung weiter beobachten – aber da es sowieso immer wieder verschoben wird, lautet das Motto: Keine Panik!
Man sollte natürlich eine gewisse Offenheit und Bereitschaft mitbringen, sich hier zu integrieren, aber dafür wird man mit wirklich höflichen, respektvollen Menschen konfrontiert und einer guten Entwickler-Landschaft, die man sich für Deutschland in der Zukunft auch wünscht.
Sie entstammen selbst der deutschen Games-Branche, wohnen oder arbeiten aber mittlerweile im Ausland – und möchten gerne Ihre Geschichte erzählen? Oder kennen eine spannende Persönlichkeit, auf die diese Beschreibung zutrifft? Melden Sie sich gerne bei der Redaktion – wir freuen uns auf Ihre Nachricht.
Bisherige Folgen unserer Auswanderer-Serie „Tschö Germany“:
- Kristina Rothe – Turn 10 Studios, Redmond / USA
- Martin Wein – Jagex, Cambridge / Großbritannien
- Florian Emmerich – THQ Nordic, Wien / Österreich
- Guido Schmidt – Paradox Interactive, Umea / Schweden
- Bernd Diemer – DICE, Stockholm / Schweden
- Frank Fay – Riot Games, Los Angeles / USA
- Andreas Wilsdorf – Nordeus, Belgrad / Serbien
- Melanie Taylor – Brisbane / Australien