Allzu ekstatisch fallen die Presse- und Nutzer-Reaktionen auf den Streaming-Dienst Google Stadia bislang nicht aus. Aber das muss ja nicht so bleiben.
Verehrte GamesWirtschaft-Leser,
„Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: Schnellere Pferde.“
Eines von vielen wunderbaren Zitaten, die dem Automobil-Pionier Henry Ford zugeschrieben werden (auch schön: „Fünfzig Prozent der Werbung sind rausgeworfenes Geld. Man weiß nur nicht, welche Hälfte.“)
Fords These: Der durchschnittliche Verbraucher hat ein ziemlich gutes Gespür dafür, wie sich vorhandene Produkte verbessern lassen. Gleichzeitig ist er irrsinnig schlecht darin, disruptiv zu denken – also zu antizipieren, dass es auch komplett anders gehen könnte. Es fehlt schlicht an Vorstellungskraft. Was zum Beispiel die mittelschwere Ignoranz der Öffentlichkeit gegenüber Flugtaxis erklärt. Ausblendend, dass zwischen dem ersten Motorflieger und der Mondlandung gerade mal paar Jahrzehnte vergingen.
Ungefähr 100 Jahre nach Ford blies ein gewisser Steve Jobs ins selbe Horn: „Menschen wissen nicht, was sie wollen, bis man es ihnen zeigt. Deshalb verlasse ich mich nie auf Marktforschung.“
Dass Marktforscher, Journalisten, Analysten und anderweitige Vollzeit-Experten so oft daneben liegen, hat damit zu tun, dass sie nicht direkt am Produkt tüfteln. Sie alle leiten ihre Urteile und Prognosen aus vorhandenen Geschäftsmodellen, Umsätzen und Märkten ab – und verkennen daher oft genug die Wucht einer Idee, deren Zeit gekommen ist. Im Nachgang will es natürlich jeder schon immer gewusst haben.
Was uns zu Stadia bringt: Der Spiele-Streaming-Dienst von Google ist seit dieser Woche für mutige Early Adaptor nutzbar. Anstelle der in PC und Konsole verbauten Grafikchips werden Spielszenen direkt im Rechenzentrum generiert – ausgeliefert wird nur das fix und fertige Bild. Ein Google Chromecast und eine fixe Internet-Leitung genügen, um aktuelle Konsolen-Spiele ohne Konsole am Fernseher zu spielen.
Einhelliger Presse-Tenor: Das funktioniert grundsätzlich erstaunlich okay, selbst im Internet-Entwicklungsland Deutschland – aber wer zur Hölle braucht sowas?
Ein PlayStation-4-, Nintendo-Switch- oder Xbox-One-Besitzer ja schon mal nicht. Und das Smartphone- und Tablet-Publikum wurde über Jahre an ‚Gratis‘-Content gewöhnt, der inzwischen 99 Prozent des Appstore-Umsatzes ausmacht. Was genau sollte diese Zielgruppe also plötzlich dazu veranlassen, 60 Euro für ein gestreamtes Spiel auszugeben? Denn Google verlangt mindestens ebenso viel, zuweilen doppelt so viel für einen Spiele-Blockbuster wie der Elektronikmarkt oder Download-Shop Ihres Vertrauens – plus eine monatliche Gebühr von zehn Euro.
Bei einer unterstellten Stadia-Nutzungszeit von drei Jahren könnte man sich also genauso gut schon jetzt eine PS4 Pro oder Xbox One X ins Regal stellen – 4K, HDR, 5.1-Sound ab Werk.
Wie man es also dreht und wendet – es spricht viel dafür, dass die Stadia-Technik um Einiges ausgereifter ist als das derzeitige Stadia-Geschäftsmodell. Die meisten Analysten erwarten daher, dass Google mittelfristig doch noch auf das zunächst suggerierte, später dementierte Netflix-/Spotify-Modell schwenkt. Heißt: einmal zahlen, unbegrenzt nutzen.
Abhängig davon, was Sony und Microsoft aushecken, könnte Stadia zum XXL-Flop geraten – und in ein paar Jahren sang- und klanglos eingestellt oder mit anderen Diensten verheiratet werden.
Nicht auszuschließen ist meines Erachtens aber auch ein komplett anderes Szenario, nämlich, dass wir Stand heute noch nicht überblicken, was Google wirklich mit Stadia vor hat – so, wie sich selbst schlaue Menschen nicht vorstellen konnten, wohin sich ein Kartendienst wie Google Maps / Earth oder eine Video-Plattform wie YouTube entwickelt. Beides ist heute quasi Industriestandard und in Myriaden von Apps, Online-Diensten, Shops und Websites verbaut. Ganze Branchen – etwa Hersteller von Navigationsgeräten – stehen seitdem vor der Frage: Was machen wir künftig eigentlich beruflich?
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Richtig ist: Die meisten Stadia-Features klingen danach, als hätte man Core-Gamer nach ihren Herzenswünschen gefragt und „Schnellere Pferde!“ als Antwort erhalten. „Ich wünsche mir, dass man nicht mehr stundenlang Spiele herunterladen und installieren muss“ zum Beispiel. Oder: „Die Ladezeiten von Missionen und Spielständen nerven total – wäre schön, wenn das entfällt.“
All diese Wünsche erfüllt Stadia schon jetzt. Doch das eigentliche Spielerlebnis als solches ist bestenfalls identisch mit PC und Konsole, je nach Bandbreite und Latenz im Einzelfall sogar schlechter. Unterstellt, Google kriegt das in den Griff: Weit größere Sorge müssen die gewaltigen und tendenziell steigenden Irrsinns-Datenmengen bereiten, die pro Spielstunde durch die Leitung gejazzt werden.
Die holprige Markteinführung samt verhühnerter Kommunikation plus viele offene Sinn-und Technik-Fragen sollten jedenfalls nicht dazu verleiten, Stadia schon jetzt abzuschreiben. Womöglich werden wir uns schon in ein, zwei Jahren die Äuglein reiben und verblüfft feststellen, dass die Google-Ingenieure bewusst oder aus Versehen aufs richtige Pferd gesetzt haben.
Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen
Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft
Alle Folgen der Kolumnen-Reihe finden Sie in der Rubrik „Meinung“.