Gerade einmal 20 Virtual-Reality-Achterbahnen gibt es bislang – weltweit. Die Technik stammt aus Deutschland. Genauer: aus dem Europa-Park in Rust. Entwickelt wurde sie an der Hochschule Kaiserslautern.
[toc]Alpenexpress Coastiality – so hieß die weltweit erste Achterbahn, bei der die Fahrgäste eine Samsung-Gear-VR-Brille tragen und während der Fahrt eine turbulente Fahrt auf einer Art Lore durch eine Fantasy-Welt erleben.
Nicht schlecht für eine Bahn, die 1984 eröffnet wurde und somit über 30 Jahre auf dem Buckel hat, ehe sie im September 2015 das Virtual-Reality-Zeitalter einläutete.
Die Bahn steht im Europa-Park im badischen Rust, auf halber Strecke zwischen Freiburg und Straßburg. Mit fast einer Million Quadratmetern ist der Europa-Park Deutschlands größter Freizeitpark und der zweitmeistbesuchte Park Europas, gleich nach Disneyland Paris. Der Park wächst alljährlich um weitere Hotels, Themenbereiche, Shows und Events: Inzwischen machen sich jährlich mehr als 5 Millionen Besucher auf den Weg nach Rust.
Europa-Park-Chef Michael Mack: „Wir müssen am Ball bleiben.“
Einer der Geschäftsführer des Europa-Parks ist Michael Mack. In der Familiendynastie sei er für die Innovationen zuständig, sagt er, ständig auf der Suche nach neuen Ideen.
Während sich sein Bruder Thomas um Hotellerie und Gastronomie kümmert, steuert Michael Mack die Tochterfirmen. Mack Solutions entwirft beispielsweise die Themenwelten im Park, vom Wartebereich bis zum Shop. Mack Media hingegen betreibt das Lizenzgeschäft, also Apps, Musik, Trailer und Spiele.
Michael Macks aktuelles Steckenpferd: virtuelle Welten im Allgemeinen und seine Firma VR Coaster im Speziellen. Ein Vortrag auf dem diesjährigen Gamescom Congress führte ihn bereits zum zweiten Mal nach Köln. Mack Media präsentierte sich zudem auf dem Gemeinschaftsstand der baden-württembergischen Spielehersteller.
Das junge Publikum auf der Gamescom macht natürlich schon heute einen großen Teil seiner eigenen Kundschaft aus – sie soll es aber auch in zehn oder 20 Jahren noch sein. „Die jungen Menschen hier auf der Messe wachsen mit Spielen und digitalen Welten auf – da müssen wir am Ball bleiben, damit es nicht eines Tages heißt: Bleibt mir weg mit eurem altmodischen Zeug.“
Europa-Park in Rust: Achterbahn-Entwicklung ist „family business“
Mit permanenter Veränderung hat Familie Mack jahrhundertelange Erfahrung. Noch Anfang der 70er befand sich auf dem Gelände des Europa-Parks eine Art Showroom für die Karussells und Kirmes-Attraktionen aus dem Hause Mack. Der Familienbetrieb stellt bereits seit über 350 Jahren Wagen für Jahrmärkte, Schausteller und Zirkusbetriebe her, vor knapp 100 Jahren entstanden die ersten Achterbahnen. Aus dem Ausstellungsbereich wurde schließlich ein öffentlich zugänglicher Freizeitpark.
Bis zum heutigen Tag produziert die Firma Fahrgeschäfte aller Art. Inzwischen heißt sie Mack Rides und gilt als einer der Weltmarktführer für Freizeitpark-Attraktionen. Wer sich also eine Achterbahn in den Vorgarten stellen möchte – Anruf genügt. Die 100 Mitarbeiter erfinden, entwickeln, produzieren und warten nicht nur die Attraktionen im Europa-Park. Die Wasserbahnen, Achterbahnen und „Rundfahrgeschäfte“ aus dem Badischen gehen in die ganze Welt.
Neu im Sortiment: Virtual-Reality-Achterbahnen. „Ein Wahnsinnserlebnis“, wie es der Europa-Park-Senior-Chef Roland Mack nennt.
VR Coaster: G-Kräfte, Fahrtwind, Beschleunigung
Seit es VR-Brillen gibt, existieren auch Achterbahn-Demos. Schließlich lässt sich damit das 3D-Gefühl besonders beeindruckend simulieren. Der Haken: Das Geschwindigkeitsgefühl fehlt, die Beschleunigung, ebenso die einwirkenden G-Kräfte, der Fahrtwind, die Drops und insbesondere die begehrte Airtime, also das Gefühl der Schwerelosigkeit.
Was liegt da näher, als beides zu kombinieren – VR-Brille und echte Achterbahn? Wer glaubt, man müsse den Fahrgästen einfach nur eine VR-Brille aufsetzen und einen halbwegs passenden Film abspulen, irrt gewaltig.
Die Szenen müssen zentimetergenau auf die Strecke abgestimmt werden – und zwar sowohl für Sitzreihe 1 als auch für Reihe 20. Geschwindigkeit, Position, Kurvenlage, alles muss passen. Gibt es hier nur die geringste Abweichung, geht die Sache übel aus – buchstäblich. Selbst dem hartgesottensten Rollercoaster-Fan würde nach wenigen Sekunden schlecht werden, weil der Gleichgewichtssinn aus der Bahn gerät.
Europa-Park-Chef Michael Mack: „Motion Sickness? Gibt es nicht.“
Eine Art mitfahrende „Black Box“ greift die Messdaten der Schienenführung und Räder ab und gibt sie kabellos via Bluetooth an die Smartphones und Samsung Gear VR-Brillen an Bord weiter. Diese Box samt Halterung stellte die Ingenieure vor gewaltige Herausforderungen. Denn das Computersystem wird während der Fahrt ordentlich durchgeschüttelt, ist enormen G-Kräften ausgesetzt und muss absolut sicher verstaut werden, damit auch der TÜV grünes Licht gibt.
Bereits in der frühen Phase der Entwicklung stellte sich zur Verblüffung aller Beteiligten heraus: Die VR-Brillen sitzen auch bei anspruchsvolleren Achterbahnen absolut sicher am Kopf des Fahrgastes. Das ist überraschend, wenn man weiß, dass die Freizeitpark-Mitarbeiter tagtäglich Dutzende von Sonnenbrillen, Mützen und Portemonnaies aus den aufgespannten Netzen unter Loopings fischen.
Also wirklich keine Motion Sickness? „Da gibt es keinerlei Probleme“, beteuert Michael Mack.
Im Gegenteil: Viele Faktoren, die üblicherweise für Unwohlsein sorgen, entfallen, sobald man eine VR-Brille trägt, etwa die Höhenangst. Gerade angespanntere Fahrgäste fühlen sich in der virtuellen Welt sicherer als in der echten – mit ein Grund, warum Fluggesellschaften längst an VR-Systemen arbeiten, die Flugangst lindern.
Der Erfinder des VR-Coaster: Professor Thomas Wagner
Entwickelt hat das System Professor Thomas Wagner von der Hochschule Kaiserslautern. Zusammen mit seinen Studenten hat er die Technologie konzipiert und immer weiter verfeinert – zuerst in der Theorie, dann in der Praxis. Erprobt wurde die Idee buchstäblich im Rahmen von Nacht- und Nebelaktionen im Europa-Park, denn tagsüber herrschte ja regulärer Fahrbetrieb. Zudem unterlag das Projekt „högschter Geheimhaltung“.
Als die gröbsten technischen Probleme gelöst waren, gründete Wagner die Firma VR Coaster in Kaiserslautern. Michael Mack ist einer der Gesellschafter. Patente wurden angemeldet, der Vertrieb startete, Mack Rides lieferte die ersten Bahnen aus.
Ebenfalls im Team: Thomas Muhr, der Head of Digital & Gaming, war zuvor über zehn Jahre bei Nintendo in Großostheim tätig, unter anderem als Marktforscher. Den Großteil der Belegschaft stellen Programmierer, Sound-Artists, 3D-Animateure und Concept-Art-Grafiker, die sich um Modelle, Texturen und Animationen kümmern. Entwickelt wird ganz klassisch mit der Unity-Engine, wie bei vielen herkömmlichen Spieleproduktionen. Eine halbe Million Euro hat alleine die Entwicklung des ersten VR-3D-Films gekostet.
VR Coaster macht altersschwache Achterbahnen munter
Rein logistisch bedeutet ein VR-Ride natürlich einen etwas größeren Aufwand für die Betreiber. Schließlich müssen die VR-Brillen ausgegeben, eingesammelt, überprüft und gereinigt werden – zusätzliches Personal ist in jedem Fall erforderlich. Im Europa-Park wird ein Aufschlag von 2 Euro pro VR-Achterbahn-Fahrt fällig, die „normale“ Fahrt ist weiterhin im Eintrittspreis enthalten.
Doch die VR-Coaster-Technologie hat für Freizeitpark-Betreiber den großen Charme, dass nicht zwangsläufig komplett neue Achterbahnen gebaut werden müssen. Siehe Beispiel Alpenexpress, eine Bahn, die bereits seit über 30 Jahren im Betrieb ist. Vielmehr lassen sich ältere Strecken vergleichsweise kostengünstig um ein komplett neues Erlebnis erweitern, ohne gleich die betagte Bahn abzureißen.
Dennoch fängt das Team von VR-Coaster bei jeder Bahn ganz von vorne an, denn jeder Ride ist einzigartig. Grundvoraussetzung ist daher die präzise Vermessung der Streckenführung.
VR Coaster: Frühester Liefertermin 2018 aufwärts
Die große Nachfrage übersteigt deutlich die Kapazitäten von VR Coaster, Mack Media und Mack Rides. Die Mannschaft ist bis weit ins Jahr 2017 hinein ausgebucht – wer heute bestellt, wird 2018 oder noch später beliefert, sagt Michael Mack.
Besonders großes Interesse kommt nach seinen Worten aus den Achterbahn-Hochburgen in den USA. Cedar Point, Six Flags Magic Mountain, Six Flags Over Texas, Universal Studios oder das Alton Towers Resort in England haben einen Ruf zu verlieren. „Die Parks stehen in einem harten Wettbewerb – und müssen ihren Gästen Jahr für Jahr das Neueste vom Neuen bieten“, sagt Michael Mack. Und schmunzelnd fügt er hinzu: „Dieses Knowhow aus Achterbahnbau, 3D-Film und Virtual Reality – das haben nur wir.“
Tatsächlich gibt es weltweit kaum ein Achterbahn-Projekt dieser Art, an dem Mack und sein Team nicht beteiligt sind.
Die von VR Coaster entwickelte Technologie steht natürlich ganz am Anfang. Mittelfristig ist es auch vorstellbar, interaktive Elemente in die Fahrt einzubauen, beispielsweise mit einer Art Joystick auf Aliens zu feuern. Oder aber Augmented-Reality-Objekte einzubauen, also etwa die reale Streckenführung ins virtuelle Manhattan zu verlagern.
Und natürlich taugt das System nicht nur für haarsträubende Achterbahnen, sondern auch für ruhigere Attraktionen. Ein Beispiel sind die sogenannten „People Mover“, also Transportanlagen wie Mini-Eisenbahnen oder Schwebebahnen, wie es sie in jedem größeren Freizeitpark gibt.
Assassin’s Creed, Rabbids, Anno: Vereinbarungen mit Ubisoft unter Dach und Fach
Auf der Suche nach passenden Franchises für die 3D-Filme verhandelt Mack mit Hollywood-Studios und Videospiel-Herstellern. Der VR-Ride auf der Pegasus-Bahn im Griechenland-Abschnitt des Europa-Parks basiert beispielsweise auf Happy Family, einem Warner-Bros.-Animationsfilm, der 2017 in die Kinos kommt.
Konkrete Vereinbarungen gibt es Mack zufolge mit Ubisoft. Neben Raving Rabbids und Assassin’s Creed sehen die Pläne auch Virtual-Reality-Rides auf Basis der Aufbauspiel-Marke Anno vor.
Wer hierzulande VR-Achterbahnen ausprobieren möchte, hat dazu Gelegenheit im Erlebnispark Schloss Thurn im fränkischen Heroldsbach (Dinolino VR-Ride) und natürlich im Europa-Park Rust (Alpenexpress Coastiality, Pegasus Coastiality). Einen ersten Eindruck von der wilden Fahrt vermittelt die Coastiality-App, die kostenlos in führenden Appstores erhältlich ist.