Deutschlands oberste Medienwächter haben der Jugendschutz-Software JusProg die Betriebserlaubnis entzogen – zu Unrecht, wie das Verwaltungsgericht Berlin feststellt.
Update vom 29. August 2019: Das Berliner Verwaltungsgericht hat sich am 28. August im Zuge eines Eilverfahrens mit der Causa „JusProg“ beschäftigt – und der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) Recht gegeben.
Nach Auffassung der Richter ist die FSM-Anerkennung der JusProg-Software nicht zu beanstanden. Der Bewertungsspielraum sei nicht überschritten worden. Laut Verwaltungsgericht kann ein Jugendschutzprogramm auch dann „geeignet im Sinne des Gesetzes sein“, wenn es nur für bestimmte Betriebssysteme verfügbar ist.
Die Entscheidung hat zur Folge, dass Online-Anbieter ihre Inhalte bis auf Weiteres rechtssicher via einer technischen Alterskennzeichnung zugänglich machen dürfen – ohne auf Alternativen wie etwa Sendezeit-Beschränkungen oder Ausweis-Daten zurückgreifen zu müssen.
In einer ersten Reaktion bedauert die Komission für Jugendmedienschutz (KJM) das Urteil des Verwaltungsgerichts. „Die Entscheidung des Gerichts hat nun zur Folge, dass Telemedienanbieter bis auf Weiteres umfassend privilegiert bleiben, obwohl kein wirksamer Schutz der Kinder und Jugendlichen vor entwicklungsbeeinträchtigenden Inhalten besteht“, analysiert der KJM-Vorsitzende Wolfgang Kreißig. Die Diskrepanz sei dem Gericht durchaus aufgefallen – um so enttäuschender sei, dass die Bedeutung des Jugendschutzes nicht hinreichend gewürdigt worden sei.
Die Medienanstalt Berlin-Brandenburg prüft, ob sie Rechtsmittel gegen das Urteil einlegt.
Update vom 16. Mai 2019 (14 Uhr): Auf GamesWirtschaft-Anfrage bekräftigt Game-Geschäftsführer Felix Falk die deutliche Kritik des Branchen-Verbands an der überraschenden Aberkennung der JusProg-Freigabe.
Die KJM-Entscheidung senke das Jugendschutz-Niveau in Deutschland, während die Rechtsunsicherheit bei Anbietern und die Verunsicherung bei Eltern steigen. „Nur ein Jugendschutzprogramm bietet Schutz vor problematischen Inhalten aus dem Ausland“, so Falk.
Über eine juristische Anfechtung der KJM-Entscheidung werde seitens der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) entschieden, da deren Entscheidung betroffen sei. Falk hält den Klageweg allerdings für „sehr wahrscheinlich“, da sowohl die Entscheidung der KJM als auch die Anordnung des sofortigen Vollzugs „rechtlich höchst fragwürdig“ sei.
Falk warnt vor den möglichen Folgen für die Branche: „Wenn die Entscheidung der KJM juristisch Bestand haben sollte, müssen Anbieter von Online- und Download-Inhalten ab 16 Jahren auf Maßnahmen aus dem analogen Zeitalter wie technische Sperren oder Sendezeitbeschränkungen zurückgreifen.“
Update vom 16. Mai 2019 (12 Uhr): Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) wehrt sich gegen den KJM-Vorwurf, bei der Beurteilung des Jugendschutzprogramms JusProg im März 2019 die rechtlichen Grenzen des Beurteilungsspielraums überschritten zu haben. Das Gesetz verlange ausdrücklich nicht, dass Jugendschutzprogramme auf jedem beliebigen Endgerät funktionieren müsse.
„Die alternativen Schutzmöglichkeiten, auf welche die KJM verweist – wie Sendezeitbeschränkungen oder Personalausweiskontrollen – sind fernab heutiger Nutzungsrealitäten und bieten keinen Schutz vor problematischen ausländischen Inhalten“, sagt FSM-Geschäftsführer Martin Drechsler. „Die KJM-Entscheidung bedeutet einen herben Rückschlag für die Weiterentwicklung von Schutzsystemen für Kinder und Jugendliche.“
Die FSM werde nun prüfen, ob eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin erhoben wird.
Update vom 16. Mai 2019 (10 Uhr): Auch vom Branchenverband Game kommt scharfe Kritik an der KJM-Entscheidung, dem Jugendschutzprogramm JusProg die Anerkennung abzusprechen.
„Mit diesem Schritt erweist die KJM dem Schutz von Kindern einen Bärendienst“, sagt Game-Geschäftsführer Felix Falk, der gleichzeitig dem JusProg-Vorstand angehört. „Die Entscheidung senkt das Jugendschutz-Niveau in Deutschland, während die Rechtsunsicherheit bei Anbietern und die Verunsicherung bei Eltern steigen. Nur ein Jugendschutzprogramm bietet Schutz vor problematischen Inhalten aus dem Ausland.“
Die Entscheidung zeige einmal mehr, wie dringend notwendig die Novellierung des gesetzlichen Jugendmedienschutze in Deutschland sei. Falk sieht die Games-Branche als Vorreiter bei effizienten und international anschlussfähigen Jugendschutzsystemen – gleichzeitig seien die gesetzlichen Regelungen veraltet. „In diesem Rahmen führt uns auch die KJM-Entscheidung in Deutschland wieder zu einem Jugendschutz aus dem letzten Jahrhundert, der mit Maßnahmen wie Sendezeitbegrenzungen im Internet komplett an der Lebens- und Medienrealität vorbeiläuft“, kritisiert Falk. „Besonders bedauerlich ist, dass diese völlig unverhältnismäßige Entscheidung leichtfertig die vielen positiven Fortschritte der vergangenen Jahre gefährdet, die engagierte Jugendschutzakteure in Deutschland gemeinsam auf den Weg gebracht haben.“
Update vom 15. Mai 2019 (21 Uhr): Mit „Bedauern und Unverständnis“ reagiert JusProg e. V. auf die Entscheidung der KJM, der Jugendschutz-Software JusProg die behördliche Anerkennung zu entziehen. Damit sei für den Jugendschutz in Deutschland wenig gewonnen, aber sehr viel verloren, erklärt der JusProg-Vorsitzende Stefan Schellenberg. Anderweitige Jugendschutz-Maßnahmen wie Sendezeitbeschränkungen oder Personalausweis-Abfragen seien nicht mehr zeitgemäß.
Aus Sicht von Schellenberg droht nun ein „rückschrittiger, realitätsferner und wirkungsloser Jugendschutz im Internet“. Kinder, die bislang durch die JusProg-Software vor problematischen und verstörenden Inhalten geschützt würden, seien den Angeboten – insbesondere aus dem Ausland – nun schutzlos ausgeliefert.
Mit ihrer Entscheidung ignoriere die KJM zudem den Willen des Gesetzgebers und vermisst die Bereitschaft zum konstruktiven Dialog. Schellenberg kritisiert insbesondere, dass der KJM bekannt gewesen sei, dass an gesetzeskonformen Filter-Lösungen für iOS- und Android-Geräte gearbeitet werde.
Die KJM-Entscheidung tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Wie die JusProg-Mitglieder vor diesem Hintergrund nun konkret weiter vorgehen wollen, geht aus der Pressemitteilung nicht hervor. Medienjuristen rechnen damit, dass der Verein Rechtsmittel einlegt und parallel das Gespräch mit den Behörden sucht.
JusProg: KJM hält Jugendschutz-Software für unwirksam (Meldung vom 15. Mai 2019)
Deutschlands oberste Medienwächter entziehen der Jugendschutz-Software JusProg die Betriebserlaubnis – die Entscheidung hat möglicherweise gravierende Folgen für die Branche.
Was sich bereits im Vorfeld abgezeichnet hat, ist nun Gewissheit: Die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) hat heute die Zulassung des Jugendschutzprogramms JusProg für unwirksam erklärt – und zwar mit sofortiger Wirkung. Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Dienstanbieter (FSM) habe die rechtlichen Grenzen bei der Genehmigung in den Jahren 2012 und 2017 überschritten.
JusProg ist dazu gedacht, um Kinder und Jugendliche vor ungeeigneten Inhalten im Netz zu schützen. Nach Installation des kostenlosen Programms können Eltern und Erziehungsberechtigte entsprechend des Alters der Sprößlinge einstellen, welche Inhalte und Websites angezeigt und genutzt werden dürfen. Anbieter können wiederum ihre Internet-Portale klassifizieren lassen, damit etwa Online-Games oder Video- und Streaming-Plattformen auch tagsüber zugänglich bleiben, die für minderjährige Augen und Ohren eigentlich nicht geeignet sind. JusProg erkennt beim Aufrufen einer Seite die dazugehörige Alterseinstufung und verweigert im Zweifel die Freigabe.
Vorteil für die Unternehmen: Rechtssicherheit – zumindest bislang.
Denn das Problem laut KJM: Wesentliche Teile von Medien-Inhalten würden durch JusProg gar nicht erfasst, weil die Software nur für Windows-PCs mit Chrome-Browser sowie für das Apple-Betriebssystem iOS (also iPad und iPhone) verfügbar sei – nicht aber für Android-Smartphones, die eine weit höhere Verbreitung haben. Auf diesen Systemen würden zum Beispiel Online-Games, aber auch Erotik- und Gewalt-Videos ungefiltert verbreitet.
Gegenüber dem Branchendienst Medienkorrespondenz räumt der JusProg-Vereinsvorsitzende Stefan Schellenberg ein, dass die iOS-Version zwar seit 2016 existiere, aber bislang nicht zur Anerkennung eingereicht wurde. Am 13. Mai (also zwei Tage vor der entscheidenden Sitzung) habe sich JusProg e. V. dazu verpflichtet, binnen eines Jahres JusProg-Apps für iOS und Android zu entwickeln und nachzureichen – unter der Bedingung, dass die Anerkennung für die Windows-Version nicht aufgehoben werde.
Die KJM zeigte sich von dieser Offerte offenkundig unbeeindruckt.
„Eine Eignung als Jugendschutzprogramm setzt voraus, dass dieses plattform- und geräteübergreifend funktioniert und sich am Nutzungsverhalten der Anwender ausrichtet“, erläutert KJM-Chef Wolfgang Kreißig. „Andernfalls sind Kinder und Jugendliche gerade dort ungeschützt, wo sie sich in ihrem digitalen Alltag aufhalten und es würde eine signifikante Schutzlücke entstehen, die mit dem Ziel eines effektiven Jugendschutzes schlicht nicht vereinbar ist. Diese Aspekte hätte die FSM in ihrer Prüfung von JusProg berücksichtigen müssen.“
Anbieter von „Webseiten mit entwicklungsbeeinträchtigten Inhalten“, die bislang die JusProg- Alterskennzeichnung eingesetzt und darauf vertraut haben, stehen nun vor einem nicht ohne Weiteres lösbaren Dilemma. Denn sie müssen – wohlgemerkt mit sofortiger Wirkung – anderweitige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ergreifen, etwa eine Altersverifikation oder aber eine Einhaltung von „Sendezeiten“, wie sie aus dem linearen Fernsehen bekannt sind. Inhalte, die ab 16 oder 18 Jahren freigegeben sind, wären dann erst ab 22 oder 23 Uhr abrufbar.
Hinzu kommt: JusProg gilt als alternativlos – es ist (beziehungsweise: war) die einzige anerkannte Software dieser Art.
JusProg wird seit 2003 vom gleichnamigen gemeinnützigen Verein angeboten. Der Verein nimmt für sich in Anspruch, keine Gewinnerzielungsabsicht zu verfolgen – die angeschlossenen Förderer und Mitglieder hingegen schon. Denn die Finanzierung erfolgt durch Unternehmen wie RTL, Vodafone, ProSiebenSat.1, Electronic Arts, Freenet, der Deutschen Telekom oder Sport1. Dem Vorstand gehören unter anderem Branchenverbands-Geschäftsführer Felix Falk und Electronic-Arts-Sprecher Martin Lorber an.
Die KJM will laut Kreißig nun „zeitnah“ den Dialog mit den Anbietern aufnehmen, um eine Lösung zu suchen.
Dieser Artikel wird bei Vorliegen neuer Erkenntnisse erweitert. Insbesondere hat die Redaktion die betroffenen Anbieter mit der Bitte um Stellungnahmen kontaktiert.