Schwarzweiß-Denken für Fortgeschrittene: Im Streit um die Gemeinnützigkeit von eSport wird erstaunlicherweise mehr über Schach als über eSport diskutiert.
Verehrte GamesWirtschaft-Leser,
als in dieser Woche ein DOSB-finanziertes Gutachten die Runde machte, wonach eSport kein Sport sei (zumindest mit Blick auf die Abgabenordnung), ist exakt das eingetreten, was in solchen Fällen immer passiert. Es dauerte handgestoppte zweieinhalb Minuten, bis zum ersten Mal das entscheidende Schlagwort fiel: „Und was ist mit Schach?“.
Und alle so: BINGO!
Der zuständige Fachbegriff lautet Whataboutism, abgeleitet vom englischen „What about …?“, also „Was ist eigentlich mit….?“.
Whataboutism ist eines der perfidesten und wirkungsvollsten rhetorischen Instrumente, um dem „Gegner“ den Wind aus den Segeln zu nehmen: Anstatt sich mit der (meist) berechtigten Kritik auseinandersetzen, wird eine Nebelkerze in Form eines verwandten Scheinproblems gezündet.
Wenn also Greta Thunberg auf dem Seeweg statt mit dem Flugzeug nach New York reist, arbeiten sich ihre Kritiker an der CO2-Bilanz der Hightech-Yacht ab – anstatt Thunbergs Argumente zu wägen oder (Gott behüte!) das eigene Verhalten zu überdenken.
Whataboutism funktioniert in der politischen Auseinandersetzung genauso exzellent wie im Privatleben – schon Kinder entwickeln darin eine wahre Meisterschaft, (Ehe-)Paare erst recht. Sobald ER sie mal wieder wegen IHRER astronomischen Ausgaben für High-Heels und Handtaschen maßregelt, kontert SIE mit dem Verweis auf die absurd teure Wasserkühlung SEINES Spiele-PCs – um mal die plattesten aller Klischees aus einer aktuellen Studie des Lehrstuhls am Berliner Mario-Barth-Institut aufzugreifen.
Wenn nun im erwähnten Gutachten darauf verwiesen wird, dass es in marktführenden eSport-Disziplinen um simulierten Mord und Totschlag geht und dies mit den Werten des Sports bedingt vereinbar ist – wie könnte dann das Whataboutism-Argument der Computerspiele-Lobby lauten? Richtig: „Und was ist mit Fechten? Oder Biathlon?“. Als ob es einen Sachzusammenhang zwischen einer Zielscheibe und der Inszenierung eines „Call of Duty: Modern Warfare“ gäbe.
Immer freitags, immer kostenlos: Jetzt den GamesWirtschaft-Newsletter abonnieren!
Oder nehmen wir das Thema Lootboxen. Als ich jüngst in einem ZDF-Interview kritisierte, dass gerade Kinder von solchen aufpreispflichtigen ’surprise mechanics‘ verführt werden, gab es heftigen Gegenwind aus der Branche. Mein Lieblings-Gegen-Argument: „Und was ist mit Überraschungseiern?“ Ich bin mir sicher, dass auch Sie eine Menge Kids kennen, die unterjährig zwei- oder dreistellige Beträge in Ü-Eiern versenken.
Und was ist denn jetzt mit Schach? Das ist nur deshalb „Sport“, weil der Schachbund Bestandsschutz genießt, aus überwiegend historischen Gründen, die weit ins letzte Jahrtausend zurückreichen. Der Deutsche Olympische Sportbund wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Schach unter den Bedingungen des Jahres 2019 nicht ins DOSB-Sortiment aufgenommen werden würde.
Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen
Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft
Alle Folgen der Kolumnen-Reihe finden Sie in der Rubrik „Meinung“.