Trotz erheblicher Widerstände von Lobby-Verbänden und Teilen der Wissenschaft hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Computerspiele-Sucht als eigenständige Krankheit eingestuft.

Update vom 20. Mai 2019: Laut britischer Medien will die Weltgesundheitsorganisation Ende Mai in Genf darüber entscheiden, ob „Videospiel-Sucht“ als offizielle Krankheit geführt wird. Ein Jahr nach der Einstufung als diagnostizierbare Abhängigkeit gäbe es nachvollziehbare Belege und einen wissenschaftlichen Konsens.

[no_toc]Vertreter von Industrie-Verbänden hatten bei WHO-Treffen dafür plädiert, vor einer offiziellen Anerkennung einer „Gaming Disorder“ zunächst weitere Untersuchungen abzuwarten und stattdessen die Aufklärung über mögliche Suchtrisiken zu intensivieren. Eine überstürzte Entscheidung hätte Folgen, die sich auf Jahre hinaus nicht korrigieren ließen.

Update vom 19. Juni 2018: Ungeachtet der Proteste und Mahnungen von Medizinern, Wissenschaftlern und Computerspiele-Herstellern hat die Weltgesundheitsorganisation die exzessive Nutzung von Offline- und Online-Spielen als Suchtkrankheit unter dem Kürzel „6C51“ eingestuft.

Der Katalog der WHO unterscheidet grundsätzlich zwischen der stofflichen Abhängigkeit (Alkohol, Cannabis, Kokain, Nikotin etc.) und einer Verhaltens-Abhängigkeit – bislang galt das nur für Glücksspiel-Sucht („Gambling Disorder“), seit der jüngsten Revision nun auch für „Gaming Disorder“.

Wenn Menschen trotz negativer Konsequenzen wie Job-Verlust oder familiärer Probleme nicht von Smartphone und Gamepad zu lösen sind (und das über einen längeren Zeitraum hinweg), dann gilt dies als eines von drei Anzeichen für eine „Gaming Disorder“.

Die Klassifizierung durch die WHO ist unter anderem eine Voraussetzung für die Kostenübernahme von Therapien durch Krankenkassen.

Computerspiele-Sucht: Branchenverband hält WHO-Pläne für „gefährlich“

Meldung vom 13. März 2018

„Sehr problematisch“, „Falsch“, „Gefährlich“: Die Interessensvertretungen der Games-Industrie wehren sich gegen die Risiken und Nebenwirkungen einer Entscheidung der WHO. Die Weltgesundheitsorganisation will Computerspiele-Sucht als Krankheit anerkennen.

Wann immer eine Branche unter öffentlichem Druck steht und Nachteile fürs Image fürchtet, verlaufen die Argumentationslinien ähnlich: Stigmatisierung ganzer Berufsstände oder Zielgruppen, Gefährdung von Arbeitsplätzen, die Einschränkung der Freiheit mündiger Bürger, zu wenige wissenschaftliche Beweise, falsche Messmethoden – und eine Industrie, die durch Transparenz und Aufklärung in Form von Gratis-Broschüren wirklich alles in ihrer Macht Stehende tut, um Unheil von der Menschheit abzuwenden. Und natürlich nehme man die Sorgen der Verbraucher sehr, sehr ernst.

Auf diese Weise haben es Autohersteller samt Dachverband geschafft, den Einbau betrügerischer Software und ein damit einhergehendes Gesundheitsrisiko ohne allzu große Auswirkungen auf Geschäftsmodell und Umsatz abzumoderieren.

Um das Thema Gesundheit geht es auch der Frage, ob Computerspiele-Abhängigkeit diagostizier- und behandelbar ist. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht dafür hinreichende Belege und will bei der nächsten Revision der „Internationalen Klassifikation der Krankheiten“ im Mai 2018 die sogenannte „Gaming Disorder“ in den ICD-Katalog aufnehmen.

Gaming Disorder: Weltgesundheitsorganisation will Computerspiele-Sucht anerkennen

Analog zu anderen „substanzungebunden Abhängigkeiten“ wie Glücksspielsucht, Kaufzwang oder Messie-Syndrom könne auch exzessives Online- und Offline-Computerspielen zur Vernachlässigung von Schule, Studium, Privatleben oder Job führen – mit möglicherweise existenziellen Konsequenzen. Wer gelegentlich ganze Wochenenden oder Nächte vor PC oder Konsole verbringt, ist damit nicht gemeint. Erst, wenn die Abhängigkeit über einen Zeitraum von mindestens zwölf Monaten anhält und den Alltag dominiert, spricht die WHO von einer „Gaming Disorder“.

Die Einordnung unter dem Kürzel 6C51 im Kapitel über Abhängigkeiten von Stoffen (Alkohol, Nikotin, Kokain etc.) oder bestimmtem Verhalten hat möglicherweise weitreichende Konsequenzen – zum Beispiel dann, wenn es um die Einrichtung von Therapie-Plätzen, Maßnahmen zur Suchtprävention, Warnhinweise auf Produkten, Vertriebs-Einschränkungen oder die Bezahlung einer Behandlung durch die Krankenkasse geht.

Der Blick auf die unter Beschuss stehende Sportwetten-, Casino- und Automatenbranche und auf die Besetzung des Postens der Bundesdrogenbeauftragten lässt aber erahnen, dass mittel- und langfristig weiteres Ungemach droht. Das milliardenschwere Glücksspiel-Gewerbe in Deutschland wehrt sich seit Jahrzehnten gegen immer härtere Auflagen und staatliche Regulierung bis hin zu Spielhallen-Schließungen und der Einstellung ganzer Vertriebsmodelle.

Computerspiele-Sucht: Widerstand der Lobby-Verbände

Diese potenziellen Risiken und Nebenwirkungen erklären den erbitterten Widerstand der führenden Wirtschaftsverbände gegen die geplante WHO-Einstufung. So haben unter anderem der US-Lobbyverband ESA und das europäische Pendant – die Interactive Software Federation of Europe – bereits heftig protestiert und das Kapitel 6C51 rundheraus abgelehnt.

Wichtigstes Argument: die fehlende wissenschaftliche Basis in Form von belastbaren Studienergebnissen. Den bereits vorliegenden Papieren fehle es an akademischer Substanz.

Die ESA als Sprachrohr der US-Spielebranche lässt sich gar zu der mutigen Aussage hinreißen, dass der „gesunde Menschenverstand und objektive Forschung beweisen, dass Videospiele nicht abhängig machen“.

Auch der deutsche Industrieverband Game – der die Interessen nahezu aller namhaften Konsolen- und Spielehersteller vertritt – kritisiert die fehlende Grundlage seitens der Forschung. So habe sich seitens einiger Wissenschaftler und Mediziner bereits Widerstand gegen die Anerkennung der „Gaming Disorder“ formiert – die Experten stellen grundsätzlich in Frage, dass es sich beim exzessiven Computerspielen und bei der Online-Sucht um eigenständige Krankheitsbilder handelt. Mögliche Folge: Bei künftigen Forschungsprojekten werde es nur noch um das Ausmaß der Spielsucht gehen, aber nicht mehr um die Abgrenzung zu „normalem“ Spielverhalten.

Der Game hält die WHO-Entscheidung daher für „sehr problematisch“, „falsch“ und „letztlich gefährlich“. Denn „eigentlich gesunde Kinder und Jugendliche könnten stigmatisiert werden, etwa weil ihre sich verändernde Medienrealität nicht verstanden wird.“ Konkret warnt der Game-Verband vor „zahlreichen Fehldiagnosen“, weil zum Beispiel die Feststellung „ernsthafter, psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen“ ausblieben und gleichzeitig Alkohol- oder Drogensucht verharmlost würden.

Der Game-Verband fordert stattdessen Aufklärung und mehr Medienkompetenz, wie sie zum Beispiel die verbandseigene Stiftung Digitale Spielekultur leistet – und natürlich in Form von Gratis-Broschüren.