Was einst die Ausnahme war, ist heute Standard: Fast alle Computerspiele erscheinen ungeschnitten – also 100 Prozent Uncut. Woran liegt das?
[no_toc]Implodierende Eingeweide, berstende Knochen und Schädel, alles in Zeitlupe und Nahaufnahme: „Kill-Cam“ nennt sich diese Spezialität von „Sniper Elite 4“, das mit anatomischer Präzision die letale Wirkung eintretender Kugeln, Messer und Granat-Splitter dokumentiert – und damit Fachpresse und Zielgruppe in Verzückung versetzt. Spielerisch relevant ist die Kill-Cam nicht: Wer sich sattgesehen hat, kann die Funktion im Options-Menü deaktivieren.
Noch vor wenigen Jahren hätte man einen Ego-Shooter dieser Gewichtsklasse kräftig entschärfen müssen, um ihn in Deutschland überhaupt verkaufen zu dürfen. Andernfalls wäre mindestens die Indizierung fast schon zwangsläufig gewesen, was bekanntlich mit weitreichenden Werbe- und Vertriebs-Auflagen verbunden ist.
Inzwischen ist „Sniper Elite 4“ genauso wie der Vorgänger eines von zahllosen Beispielen, die ohne Kürzungen und Schnitte in die Auslagen von Amazon, ALDI, REAL-Supermärkten und Saturn-Filialen gelangen. Zwar jeweils ohne Jugendfreigabe (sprich: USK 18), dafür aber mit der seit 2003 serienmäßigen Garantie, nicht nachträglich auf dem Index der Bundesprüfstelle zu landen.
Vorläufiger Höhepunkt: „Dead Rising 4“. Die wenigsten Fachleute hätten Wetten darauf abgeschlossen, dass das Zombie-Survival-Spiel aufgrund seiner Vorgeschichte überhaupt eine Minimalchance auf ein Siegel der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) hat, noch dazu ungeschnitten. Und doch ist dieses Kunststück gelungen, wenn auch erst auf anwaltlichen Nachdruck.
Warum immer mehr Videospiele ungeschnitten auf den Markt kommen
100 Prozent Uncut – das ist seit jeher ein Verkaufsargument, das den Herstellern oft eine eigene Pressemitteilung wert ist und prominent auf Packungen gedruckt wird. In diesem Jahr haben unter anderem Bestseller wie „For Honor“, „Resident Evil: Biohazard“ und „Ghost Recon: Wildlands“ die USK-Gremien passiert, in den Vorjahren gelang dies bei „Until Dawn“, „Mortal Kombat X“, „Doom“ oder „Metal Gear Solid 5“.
Die meisten Multiplayer-Shooter wie „Battlefield 1“, „Star Wars: Battlefront 2“, „Overwatch“ oder „Destiny 2“ sind ohnehin ab 16 Jahren freigegeben – Gleiches gilt für Action-Abenteuer wie „Uncharted 4“ oder „Assassin’s Creed Origins“. Für Handel und Kunden ist das ein Vorteil, denn dann entfallen die Unannehmlichkeiten und erhöhten Kosten, die durch den Spezialversand samt eigenhändiger Übergabe entstehen.
Gleichzeitig ist die Zahl neuer Spiele-Indizierungen auf einem historischen Tiefststand. 566 Titel stehen auf dem Index, in den vergangenen Jahren sind nur noch eine Handvoll hinzugekommen. Stattdessen werden immer öfter Titel rehabilitiert, indem sie vom Index fliegen.
Im Gegensatz zu Film und TV greifen Spielehersteller mittlerweile nur noch dann entschärfend ein, wenn ein Spiel vor der (fiktiven) Kulisse des Zweiten Weltkriegs spielt. Dann werden eigens für den deutschen Markt alle Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organisationen entfernt, etwa Hakenkreuze oder SS-Runen. Auch bei einigen Herbst-Neuheiten wie „Wolfenstein 2: The New Colussus“ oder „Call of Duty: WWII“ ist dies geschehen.
Es sind die einzigen bekannten Fälle im Blockbuster-Bereich der laufenden Saison, in denen sich die deutschen Versionen von der Originalfassung unterscheiden.
100 Prozent Uncut: Darum erscheinen Computerspiele immer öfter ungeschnitten
Was ist da passiert? Wie ist die neue „German Freizügigkeit“ durch die Bundesprüfstelle und die Instanzen der industriellen Selbstkontrolle zu erklären?
Für den Rückgang bei Entschärfungen und Indizierungen gibt es einige naheliegende Gründe:
Ganz grundsätzlich sinkt die absolute Zahl der USK-geprüften Titel – und das seit Jahren: 2009 prüfte die USK noch 3.100 Spiele, also fast zehn Spiele pro Kalendertag. Gegenüber diesem Zeitraum hat sich die Zahl der Vorgänge fast halbiert – auf nur noch 1.646 im Jahr 2016. Ein Grund: Publisher wie Activision Blizzard oder Electronic Arts veröffentlichen pro Jahr nur noch eine Handvoll an Neuheiten (die Gründe sind hier nachzulesen). Titel, die beispielsweise ausschließlich via Steam oder GOG vertrieben werden, kommen meist gar nicht auf den Tisch der Prüfer.
Das Erwachsenen-Segment hat für die Games-Industrie (die den Betrieb und die Belegschaft der USK finanziert) eine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Vor zwölf Jahren war im Schnitt jedes 25. Spiel für Volljährige freigegeben – heute ist es jedes 14. Spiel. Stattdessen wurde damals viel häufiger entschärft, indiziert, beschlagnahmt. Und auch, wenn die USK-18-Titel nur einen Bruchteil der geprüften Spiele ausmachen, stellen sie regelmäßig knapp die Hälfte der meistverkauften PC- und Konsolenspiele. Für 2017 ist Ähnliches zu erwarten.
Spielehersteller sind immer öfter bereit, sich gegen abschlägige Entscheidungen zur Wehr zu setzen. Die Zahl der Berufungsverfahren und sogenannter Appellationen ist zuletzt angestiegen, wovon letzten Endes auch ein „Dead Rising 4“ profitiert hat.
Die Spielehersteller haben dazugelernt und berücksichtigen die deutsche Gesetzeslage bereits bei der Entwicklung. Wer sich unsicher ist, kann sich von den USK-Experten zu einem Tagessatz von 1.100 Euro beraten lassen, was bei der Veröffentlichung gefährdeter Spiele in Deutschland zu beachten ist.
Spiele-Apps im Google Play Store oder im Xbox Store durchlaufen das standardisierte, vereinfachte Prüfverfahren IARC, bei dem die Anbieter ihre Produkte selbst einstufen. Die USK und andere Organisationen prüfen die Freigaben stichprobenartig und reagieren auf Beschwerden. Der PlayStation Store, Steam, GOG und der iOS-Appstore sind diesem System nicht angeschlossen.
Bewertungsmaßstäbe haben sich „weiterentwickelt“
Doch der Hauptgrund liegt freilich schlichtweg an der Freigabe selbst: Die USK-Spruchpraxis orientiere sich „am gesellschaftlichen Konsens“, der einem steten Wandel unterliege. Darauf verweist USK-Geschäftsführerin Marie-Blanche Stössinger gegenüber dem Handelsmagazin IGM und spricht in diesem Zusammenhang von einer steten „Weiterentwicklung“ der Regularien. Eine Rolle spielen auch die Entscheidungen der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) mit Blick auf Listenstreichungen, Indizierungen und vor allem Nicht-Indizierungen, etwa dann, wenn der Antrag eines Jugendamts zurückgewiesen wird.
Gerade Kindern und Jugendlichen wird ein deutlich höheres Maß an Medienkompetenz zugestanden, sagt die seit 2016 amtierende BpjM-Vorsitzende Martina Hannak-Meinke. Im Mittelpunkt steht unter anderem die Frage, ob von einem Computerspiel eine „verrohende Wirkung“ ausgehe oder ob man Nachahmer-Effekte befürchten müsse. Das wird immer häufiger verneint.
Entschärfungs-Limbo ist kaum noch erforderlich
Jeder Einzelfall wird zum Präzedenzfall, an dem sich andere Spielehersteller orientieren. Sprich: Jedes gerade noch durchgewunkene Spiel legt die Messlatte ein Stückchen höher. Die Folge: Der Entschärfungs-Limbo ist immer weniger erforderlich, weil viele Spiele locker unter der Hürde hindurch spazieren.
Die Bewertungsmaßstäbe von 2017 sind dadurch mit den Maßstäben von 2012, 2007 oder 2002 nicht mehr vergleichbar – das gilt für die Darstellung von Gewalt genauso wie für nackte Tatsachen. Was einst der Pornographie zugeordnet war oder als gewaltverharmlosend oder gar -verherrlichend galt, stört heutzutage keinen großen Geist.
Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich übrigens auch im verwandten Filmbereich beobachten: So waren James-Bond-Filme über Jahrzehnte fast durchweg mit einem FSK-16-Siegel ausgestattet – seit 1999 („Die Welt ist nicht genug“) sind alle 007-Filme frei ab 12, was die Zielgruppe und das Umsatzpotenzial spürbar erweitert. Selbst der Ende Oktober anlaufende Horror-Schocker „SAW 8“ kommt laut Filmverleih ungeschnitten in die Kinos – im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger.
Da war sie wieder, die neue German Freizügigkeit.