Start Meinung Cyberpunk 2077: Die zweite Chance (Fröhlich am Freitag)

Cyberpunk 2077: Die zweite Chance (Fröhlich am Freitag)

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Cyberpunk 2077-Auftritt auf der Gamescom 2019 (Foto: GamesWirtschaft)
Cyberpunk 2077-Auftritt auf der Gamescom 2019 (Foto: GamesWirtschaft)

„They never come back“, heißt es. Doch es gibt Ausnahmen – sowohl unter einstigen Box-Weltmeistern wie auch bei angeknockten Spiele-Marken wie Cyberpunk 2077.

Verehrter GamesWirtschaft-Leser,
verehrte GamesWirtschaft-Leserin,

unmittelbar vor meiner praktischen Führerschein-Prüfung hat mir mein damaliger Fahrlehrer einen heißen und sicher gutgemeinten Insider-Tipp mit auf den Weg gegeben: Der zuständige Prüfer sei dafür berüchtigt, dass er riesenriesenriesengroßen Wert darauf legt, ob der Prüfling die Einmündungen im Blick hat. Also, Mädel: Runter vom Gas!

Was zur Folge hatte, dass ich mich auf schnurgeraden Vorfahrtstraßen übervorsichtig an jede Zufahrt heranrobbte und selbst an maximal einsehbaren Kreuzungen trotz Grünphase irrational hart in die Eisen stieg, um erst mal die veränderte Gesamtsituation zu bewerten. So wurde es mir zumindest im Nachgang geschildert.

Der Prüfer guckte sich das absurde Schauspiel endlose 15 Minuten an und ließ mich dann rechts ranfahren. Seine Worte klingen mir noch heute in den Ohren: „Das war aber nix …“. Ein paar Wochen später hat es dann im zweiten Anlauf geklappt. Seitdem nehme ich mit sehr großem Erfolg am Straßenverkehr teil – meine Flensburger Akte ist blütenweiß.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

Der steinige Weg zum ersehnten „Lappen“ ist eine von vielen Lebenslagen, in denen man zur Not auch eine zweite, dritte, vierte Chance bekommt. No harm done. Better luck next time. In anderen Fällen ist nichts mehr zu retten. Wenn die Milch im Topf anbrennt, hilft meist nur noch eines: unter ständigem Rühren in den Ausguss kippen.

Für kleine wie große Games-Studios, die meist jahrelang auf den Release am Tag X hinarbeiten, gibt es höchst selten zweite Chancen. Es steht buchstäblich viel mehr auf dem Spiel. Denn wenn erst einmal die Testurteile gefällt und Metacritic-, Amazon- und Steam-Bewertungen versaut sind und aktive Spielerschaft schwindet, wird es irre schwer bis unmöglich, die Stimmung zu drehen und noch einmal Momentum aufzunehmen. Niemand hat Lust, Loser-Games zu verteidigen. Oder Google Stadia.

Das Management steht dann vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Schlechtem Geld gutes Geld hinterher werfen und auf einen Rebound hoffen? Sprich: Wertvolle Kapazitäten binden und viele Dollars / Euros für Bugfixing, Weiterentwicklung und Promotion in die Hand nehmen? Oder das Projekt lieber gleich abschreiben und zur Kenntnis nehmen, dass der Markt das Premium-Produkt einfach nicht verstanden hat?

Die Antwort auf diese Frage fällt je nach Anbieter höchst unterschiedlich aus. Ein Konzern mit großem Portfolio – etwa die Embracer Group – wirft permanent so viele Bälle in die Luft, dass es nur ein bisschen schmerzt, wenn ein Saints Row beim Publikum durchfällt. Dann müssen es eben die 20 anderen Neuheiten und der Bestandskatalog richten.

Bei Studios, die nur alle Schaltjahre ein Produkt auf den Markt bringen, muss hingegen jeder Schuss sitzen – auf Anhieb. Die eingegangenen Risiken und Wetten sind ungleich größer.

In dieser Woche hat das polnische Studio CD Projekt Red nach längerer Pause wieder Verkaufszahlen zum Science-Fiction-Action-Rollenspiel Cyberpunk 2077 gemeldet. Aus Gründen: 20 Millionen Stück seien seit dem 10. Dezember 2020 verkauft worden – eine durchaus beeindruckende Schlagzahl. Zum Vergleich: Das von Kritikern und Spielern heiß und innig geliebte The Witcher 3 vom selben Studio hat sieben Jahre gebraucht, um auf 40 Millionen zu kommen.

Mit dieser Entwicklung war kaum zu rechnen. Denn die Marke Cyberpunk 2077 galt fast schon als irreparabel beschädigt – und das bei einem Gesamtbudget von mehr als einer Viertelmilliarde Euro (inklusive Marketing). Für ein einziges Spiel wohlgemerkt. Was übrigens jenem Betrag entspricht, den die Bundesrepublik Deutschland auf Sicht von fünf Jahren in Summe für Computerspiele-Subventionen auszugeben gedenkt.

Der Leumund des gefeierten Studios hat enorm unter dem unfertigen Zustand des Spiels zum Verkaufsstart gelitten. Die technischen Mängel waren so fundamental, dass der Titel schon eine Woche nach Launch aus dem PlayStation Store verbannt wurde. Ein historisch nahezu beispielloser Vorgang. Die Demütigung wirkte über die Branche hinaus: Die ARD-Tagesschau übernahm sogar ungeprüft die ziemlich quatschige Agentur-Meldung „Sony nimmt Videospiel vom Markt“.

Man kann sich grob vorstellen, wie Level-Designer, Programmierer, Grafiker und QA-Tester fühlen, denen jahrelange Kärnerarbeit durch die Finger rieselt. Tatsächlich lief das Spiel auf Gaming-PCs durchaus okay – auf PlayStation 4 und Xbox One war Cyberpunk 2077 hingegen bedingt über längere Zeit seriös spielbar. Wer mochte, bekam den Kaufpreis erstattet.

Mitte Januar 2021 folgte dann das öffentliche Mea Culpa durch Co-CEO Marcin Iwiński – der um Entschuldigung bat und die Verantwortung für das Debakel übernahm. Wer auch sonst?

Seine Botschaft: „Ich möchte euch versichern, dass wir unser Möglichstes tun werden, um euer Vertrauen zurückzugewinnen.“

Das klang wie eine typisch leere PR-Hülse. Turns out: Seitdem folgt Update auf Update auf Update. Oder wie Elon Musk twitterte: „Selbst für die Hotfixes gibt es Hotfixes“.

Cyberpunk 2077 wurde technisch und inhaltlich zu einem immer besseren Produkt. Und die Spieler kehrten nicht nur zurück – neue kamen hinzu und gaben den beeindruckenden PS5- und Xbox Series X-Versionen eine Chance. Die überaus erfolgreich gestartete Netflix-Anime-Serie Cyberpunk: Edgerunners sorgte für einen zusätzlichen Boost.

Mitte September verzeichneten die Server mehr als eine Million aktive Cyberpunk 2077-Spieler – täglich. Auch auf Steam gingen die Nutzerzahlen durch die Decke.

Warum nicht gleich so, möchte man fragen. Um sich selbst die Antwort zu geben: Weil die Dynamik der Games-Entwicklung plus die interne wie externe Erwartungshaltung plus ein forderndes Marktumfeld manchmal genauso irrationales Verhalten triggert wie in der Politik, in der Wirtschaft oder eben in der Führerscheinprüfung. Irgendjemand an der Spitze führender Automobilkonzerne muss ja auch der Meinung gewesen sein, mit manipulierten Abschaltvorrichtungen durchzukommen.

Ist der Schaden erstmal angerichtet, hilft Offenheit ungemein: Das Publikum goutiert es, wenn reuige Sünder den Gang nach Canossa antreten und mit großer Gestik Läuterung versprechen. Und diese Zusagen dann möglichst nicht nur einhalten, sondern übertreffen.

Auch wenn die Geschichte glimpflich ausgegangen sein mag: Zur dringenden Nachahmung empfohlen ist die Fallstudie Cyberpunk 2077 sicher nicht. Denn abgesehen vom mental aufgeriebenen Personal hallt der Vertrauensverlust noch lange am Markt nach – zuvorderst bei den Spielern, aber auch bei Investoren, die zunächst Geld und dann die Geduld verlieren. Abzulesen ist das am CD-Projekt-Aktienkurs, der genauso abgeschmiert ist wie die ursprüngliche Konsolen-Version: Wer sich das Papier zwei Tage vor Veröffentlichung des Spiels in Erwartung schöner News ins Depot legte, hat seitdem 80 Prozent seines Einsatzes verloren.

Ein schönes Wochenende und allzeit gute Fahrt wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft

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2 Kommentare

  1. Leider ist das Wirkprinzip in der Gamesbranche meiner Erfahrung nach auch ziemlich ungerecht verteilt. Kommt ein Titel gut an wird meistens die Grafik, das Game Design und auchd er Soundtrack gelobt, ist der Titel hingegen buggy, dann liegt die alleinige Schuld bei den Programmierern. Ungeachtet dessen was genau die Ursache für ein Versagen des Spiels am Ende ist. Das fühlt sich ziemlich herabwürdigend an!

    Mal abgesehnd avon, ist Cyberpunk nunmal ein gelungenes Spiel und übertrifft den Witcher bei weitem, zumindest was den Funktionsumfang angeht. Außerdem und das ist wohl nach wie vor das wichtigste Kriterium bei einem Spiel, es macht Spaß zu spielen!

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