Start Meinung Bauch, Beine, Pipapo (Fröhlich am Freitag)

Bauch, Beine, Pipapo (Fröhlich am Freitag)

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Mit Testimonials wie Rebecca Mir adressieren Hersteller wie Nintendo weiterhin gezielt eine weibliche Games-Zielgruppe (Foto: Nintendo of Europe)
Mit Testimonials wie Rebecca Mir adressieren Hersteller wie Nintendo weiterhin gezielt eine weibliche Games-Zielgruppe (Foto: Nintendo of Europe)

Umfragen, Studien und Marktdaten sind mit großer Vorsicht zu genießen – weil sie zu falschen Schlussfolgerungen verleiten (können).

Verehrte GamesWirtschaft-Leserin,
verehrter GamesWirtschaft-Leser,

zu den weniger ruhmreichen Einträgen in meiner beruflichen Vita zählt ein Projekt, das vor mehr als 15 Jahren mit einem ‚Game Over‘ endete, wie führende Medienmagazine titelten. Wunden sind verheilt, die Tränen der Kolleginnen getrocknet, Vorgänge verjährt – deshalb kann man offen darüber reden. Und über die Lehren.

Denn Anfang 2007 lag der Launch des ersten (und letzten) „Spielemagazins für Frauen“ in meiner operativen Verantwortung: Play Vanilla.

In unserer damaligen Abteilung, die ausschließlich super-seriöse, super-nerdige Fachzeitschriften für PC und Konsole produzierte, entstand eine eigene kleine Redaktion. Es wurde an nichts gespart. Für die Erstausgaben gab es ein aufwändiges Model-Shooting mit allem Pipapo. Anzeigen in großen Magazinen und TV-Spots warben für das Heft, die Druckauflage lag im deutlich sechsstelligen Bereich, der Einführungspreis bei 1,90 €.

Auf einem der Titelblätter posierte die nach wie vor omnipräsente Masked Singer-Jurorin Ruth Moschner mit Wii-Controller. Vom Cover grüßten außerdem Schlagzeilen wie: „Die 10 heißesten Handy-Spiele im Herbst.“ Oder: „Flaschendrehen war gestern: So wird Ihre Party zum Ereignis!“. Oder: „Gabentisch für Gamerinnen“. Im Inneren: Psycho-Tests („Welcher Spieletyp sind Sie?“). Der Slogan lautete unironisch: „An die Geräte, Mädels!“.

Kurzum: Ungefähr alles an diesem Produkt war gedruckter Cringe – und jede interne und externe Kritik an dem Objekt völlig berechtigt. Man kann von Glück sagen, dass das Wii Fit-Balance-Board in Deutschland erst 2008 und damit nach Einstellung von Play Vanilla auf den Markt kam. Ansonsten wären Beiträge wie „Fit wii nie: Die besten Bauch-Beine-Po-Übungen“ unvermeidlich gewesen.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

Für solche Zeitschriften-‚Innovationen‘ galt das Gleiche wie heute für TV-Shows und -Serien: Der erste Schuss muss sitzen, es gibt keine zweite Chance. Wenn das Ding nicht sofort abhebt, wandert es von der Prime Time zunächst ins Vormittags- oder Nachtprogramm und versendet sich irgendwann. Bei Zeitschriften setzt üblicherweise eine unaufhaltbare Abwärtsspirale ein: Die Druckauflage wird auf Basis von Vorab-Stichproben radikal gesenkt, dadurch gibt es weniger Verkaufsstellen, die Leser finden das Heft nicht mehr im Handel, es werden noch weniger Exemplare verkauft, die Auflage sinkt weiter … und schließlich: Flatline.

In den Folgejahren gab es verschiedentliche Spekulationen, ob der Verlag mit diesem pfiffigen Produkt schlichtweg zu früh dran gewesen sei – die Testausgabe ging im November 2006 an den Start, das iPhone erschien 2007, YouTube legte im gleichen Jahr los, Facebook gibt es seit 2008 in Deutschland, Farmville folgte 2009, Candy Crush Saga erst 2012. Andere meinten: Das Heft kam zu spät, weil der Print-Markt zu diesem Zeitpunkt schon zum Sinkflug ansetzte und man Geld und Hirnschmalz lieber in Online und Social Media hätte investieren sollen. Hätte, hätte, Bootdiskette.

Womöglich war es aber auch einfach nur eine bescheuerte Idee.

Eine Idee, auf die sicher niemand freiwillig gekommen wäre, wenn die Verlagsmutter nicht ohnehin große Frauenzeitschriften wie Cosmopolitan im Sortiment gehabt hätte. Der Schritt erschien naheliegend und irgendwie zwangsläufig. Man war irrsinnig stolz, das „weltweit erste Spielemagazin für Frauen“ aka „die spannendste Print-Neuheit 2007“ in die Zeitschriftenregale zu bringen. Weitere Versuche gab es seitdem nicht. Und ich habe eine leise Ahnung, warum.

In der damaligen Pressemitteilung wurde die dringende Notwendigkeit für ein solches Produkt noch damit begründet, dass rund ein Viertel aller Computerspieler weiblich seien – mit steigender Tendenz (heute sind es übrigens 50 Prozent). Der Zeitpunkt erschien günstig: 44 Prozent Frauenanteil unter Nintendo-DS-Spielern, 60 Prozent bei Die Sims 2, bei Anno über 30 Prozent. Eine gemeinsame Studie von Electronic Arts und Jung von Matt war zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Drittel aller Mobilegames-Downloads auf Frauen entfallen.

Halleluja, wenn das kein Markt ist!

In der Ankündigung aus dem Jahr 2006 fabulierte ich folgerichtig von einer „sträflich vernachlässigten Interessensgruppe mit enormem Potenzial“. Geschäftsführung und Vertrieb schwärmten von der damit einher gehenden „Vorreiter-Rolle“, den „direkten Zugang zu einer der am stärksten wachsenden Zielgruppen“, von einer „revolutionären „Print- und Online-Publikation“, von einer Verknüpfung der hauseigenen „Kernkompetenzen mit marktentscheidenden Innovationen“. Was man halt so sagt, um sich selbst zu beruhigen.

Branchenkundige konnten an einem Nebensatz eine der wesentlichen Triebfedern für das Projekt erkennen: „Die Anzeigenbuchungen allein für die Startausgabe belegen, wie gut das Konzept bei den Werbekunden ankommt.“

Denn die Marketinggelder für ‚männliche‘ Games (Shooter, Rennspiele, Rollenspiele etc.) hatten wir eh im Sack – in anderen Gefilden schlummerte noch Potenzial, das gehoben werden wollte. Dieser Eindruck verstärkte sich auch bei der Roadshow durch die Republik. Das Heft-Konzept sorgte bei den Entscheidern gelegentlich für hochgezogene Augenbrauen, aber eben auch für hinreichendes Commitment, gerade bei Markenherstellern mit tiefen Taschen.

2011, also drei Jahre nach dem Play Vanilla-Aus, schrieb ich in einem Beitrag für Spiegel Online vom „großen historischen Irrtum“, man könne über Fachmedien neue Spielerschichten erreichen. Dieser Irrtum bestünde in der Annahme, dass „Nutzer von Computer- und Videospielen automatisch Spielefans seien – und damit ‚monetarisierbar‘.

Wenn Magazine trotz großer Anstrengungen und bester Absichten eingestellt werden (müssen), ist das nie schön. Die Reaktionen der betroffenen Redaktionen ähneln dann meist jenem berühmten Titanic-Dialog, in dem mit einem Mix aus Ungläubigkeit und Jetzt-erst-recht-Frust darauf verwiesen wird, dieser oder jene Print- oder Online-Fregatte könne doch gar nicht sinken. Und der Chef-Ingenieur trocken entgegnet: „Sie wurde aus Eisen gefertigt, Sir. Ich versichere Ihnen, sie kann! Und sie wird. Das ist eine mathematische Gewissheit.“

Solche Momente wird auch jeder kennen, der Computer-, Konsolen- und Mobilegames entwickelt oder vermarktet: Ohne hinreichend kritische Masse säuft ein Spiel halt ab – bei Multiplayer-Titeln besonders schnell und gründlich.

Dass Play Vanilla wie weiland die Titanic an einem Eisberg zerschellt ist, lag nicht nur daran, dass das Konzept nach ungefähr zweieinhalb Ausgaben auserzählt war – was zuerst die Redakteurinnen merkten und mit Verzögerung auch die (kleine) Zielgruppe. Sondern auch daran, dass der Markt ein feines Gespür dafür hat, wenn Projekte zuvorderst entlang des Zeitgeists gebaut werden.

Nach wie vor sind viele – zu viele – Produkte erkennbar marktdaten- und marktforschungsgetrieben: Games, Gadgets, Services, Events. In den Pressemitteilungen, die tagtäglich eintreffen, lässt sich diese Herangehensweise sehr zuverlässig daran ablesen, dass aus random Studien von ziemlich uneigennützigen Agenturen und Consulting-Firmen zitiert wird, die wahnwitziges Verbraucher-Interesse gemessen haben wollen: Cloud-Gaming, Metaverse, Blockchain, Virtual Reality, E-Sport. Am Ende geht es dann allerdings oft genug nicht um einen potenziellen Massenmarkt, sondern um die Frage: Wie groß kann diese oder jene Nische überhaupt werden? Also für den Fall, dass es richtig-richtig-richtig gut läuft?

Falls Sie sich demnach schon den Kopf zermartern, mit welcher seniorigen Innovation Sie auf die jüngsten GfK-Zahlen reagieren, wonach „jede / jeder Dritte der Mobile-Games-Spielenden 50 Jahre alt oder älter“ ist: Seien Sie bitte vorsichtig. Bitte!

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft

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