Start Meinung Twitchleak: Ist der Streamer-Verdienst ‚gerecht‘? (Fröhlich am Freitag)

Twitchleak: Ist der Streamer-Verdienst ‚gerecht‘? (Fröhlich am Freitag)

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Wer bei Twitch auffallen will, braucht Talent und Durchhaltevermögen (Foto: Fröhlich)
Wer bei Twitch auffallen will, braucht Talent und Durchhaltevermögen (Foto: Fröhlich)

Auf Reichweite folgt Reichtum: Was der Twitchleak über das Gehaltsgefälle im Twitch-Universum aussagt – und über die Unwucht in der Neidkultur.

Verehrte GamesWirtschaft-Leserin,
verehrter GamesWirtschaft-Leser,

an den Wänden des weitestgehend im Originalzustand erhaltenen Teenager-Zimmers meines Elternhauses hängen immer noch Poster und Konzert-Tickets an den Wänden. Ich hab mich letztens noch mal vergewissert: Die Knabenformationstänzer von New Kids On The Block haben mir Anfang der 90er stolze 40 DM abgenommen für ihren tontechnisch miserabel ausgesteuerten Auftritt in der Nürnberger Frankenhalle.

Ich schäme mich nicht zu sagen: Ich war Fan.

Heute – 30 Jahre später – stellt sich Ed Sheeran mit nicht weniger als einer Gitarre bewaffnet auf die Bühne des Münchener Olympiastadions und berechnet den Teilnehmern für zwei Stunden Musik zwischen 80 und 100 Euro. Wer die dreistelligen Sitzplatz- und Logen-Tarife anderer Musiker (hallo Elton John!) kennt, weiß: Was Sheerans Management aufruft, ist fast schon ein Preis der Nächstenliebe.

Um sich ein Ticket für die Show des 30jährigen netto leisten zu können, müssen Normalverdiener viele Stunden an der Kasse, im Büro, unter der Hebebühne oder auf Station verbringen.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

Ohne die genaue Kalkulation zu kennen, spricht viel dafür, dass der Künstler einen signifikant sechsstelligen Betrag pro Abend und Auftritt ansetzt, konservativ geschätzt. Ist das angemessen, gar gerecht? Würde dem Herrn Sheeran nicht auch ein Stundenlohn von – sagen wir – 5.000 Euro genügen, um ein auskömmliches Leben zu führen?

Analoges gilt für umjubelte Fußballer wie Thomas Müller, Manuel Neuer oder Joshua Kimmich, die siebenstellige Summen auf ihren Gehaltsabrechnungen vorfinden – Monat für Monat, und zwar alleine von ihrem Arbeitgeber. Hinzu kommen Erlöse von Werbepartnern, Sponsoren, Ausrüstern, Lizenznehmern.

Was uns zum Twitchleak bringt: Anfang der Woche haben Hacker gigabyteweise Daten der Amazon-Streaming-Plattform ins Netz gestellt – überwiegend Programmcode, aber eben auch (vorgebliche) Honorarzahlungen an prominente Streamer. Ob die Zahlen auf den Cent genau stimmen, sei mal dahingestellt – die Größenordnung soll pi mal Daumen stimmen, was man hört.

Demnach hat Twitch – bitte machen Sie ein überraschtes Gesicht! – in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Einkommens-Millionären hervorgebracht, auch in Deutschland. YouTube-Einkünfte, Merchandise-Verkäufe, Affiliate-Provisionen und Werbe-Deals sind hier nicht inklusive.

Seitdem tobt eine veritable Missgunst-Debatte im Netz. Tenor: „Jaja, da gehen noch Steuern weg, aber wie kann es eigentlich sein, dass jemand für ein bisschen Gelaber beim Zocken so viel Asche mit nach Hause nimmt?“

„Heute wieder so viele Finanzexperten in der Timeline“ twitterte Letsplay-Urgestein Gronkh – und man konnte das Augenrollen förmlich spüren.

Das Augenrollen lässt sich möglicherweise folgendermaßen übersetzen:

Wer allein mit Twitch mehr als 100.000 Dollar/Euro pro Jahr verdienen will, sollte sicherheitshalber zu den 1.000 größten Social-Media-Stars zählen – weltweit. Denn wir reden von einer sehr, sehr, sehr, sehr kleinen Zahl an Personen, die mit hinreichend Talent, Charisma, Durchhaltevermögen, Ehrgeiz, vor allem aber: Unterhaltungswert gesegnet sind. Gerade im Entertainment-Segment lässt sich der Erfolg (oder Misserfolg) eines Produkts meist ja recht präzise einzelnen Protagonisten zuordnen – Musiker, Schauspieler, Sportler, Moderatoren, Buchautoren, Instagram-Nagellack-Tester oder eben Letsplayer.

Zweitens: Influencer ab einer gewissen Reiseflughöhe kommen nur selten ohne Agentur oder Management aus. Und drittens: Aus bescheidenen Anfängen haben sich veritable Medienunternehmen entwickelt – die Influencer treten also ihrerseits als Arbeitgeber auf. Cutter, Social-Media-Beauftragte, Kamera-Leute stehen in Lohn und Brot.

Unterm Strich bleibt natürlich dennoch mehr als eine warme Mahlzeit pro Tag übrig. Was auch okay ist. Denn: Wer Millionen Menschen unterhält und sich nicht völlig doof anstellt, der agiert nun mal nicht auf Mindestlohn-Niveau. Auf Reichweite folgt Reichtum, so einfach ist das. Und gleichzeitig so ungerecht, denn der Dienst am Individuum – egal ob in der Kita oder in der Pflege – ist ungleich schlechter bezahlt. Das ist der eigentliche Skandal, nicht der Twitchleak und auch nicht die bemerkenswerten Einkünfte einzelner Streamer.

Was nicht bedeutet, dass sich an einschlägigen Krawall-Streamern nicht reichlich kritisieren ließe, etwa ihre Vorliebe für Steueroasen oder das Thema Glücksspiel. Gerade jungen Menschen mit unterentwickeltem Koordinatensystem kann man den virtuellen Umgang mit einzelnen Figuren nicht empfehlen.

Nur: Wer der Auffassung ist, dass er mindestens ebenso viel Talent für „ein bisschen Gelaber beim Zocken“ mitbringt wie etablierte Streamer, der ist herzlich eingeladen, einen (kostenlosen) Twitch-Account oder einen (kostenlosen) YouTube-Kanal zu eröffnen und stumpf loszulegen – Glückauf!

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft


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