Der Bundestag berät heute über das Groko-Jugendschutzgesetz, das Kinder vor Risiken und Nebenwirkungen im Netz und in Games schützen soll.
Verehrte GamesWirtschaft-Leser,
ich bin in einer sehr ländlichen Gegend aufgewachsen, quasi Bullerbü 2.0. Vor dem Hintergrund von zweieinhalb Fernsehprogrammen fiel die Freizeitgestaltung zwangsläufig rustikaler aus: Aus Scheunen, Garagen und Schuppen wurden Bretter, Balken, Seile und Folien zusammengetragen, aus denen spektakuläre Überdachungen entstanden. Handgeklöppelte Papierfähnchen-Ketten mit argentinischen, kanadischen oder österreichischen Flaggen sorgten für internationales Flair.
Damit uns das Sperrholzplatten-Dach nicht spätestens ab Windstärke 2 um die Ohren flog, wurde es mit kiloschweren Findlingen beschwert – aus rein statischer Sicht mindestens fragwürdig. Passiert ist zum Glück nix. Genauso wenig beim Herumturnen auf mächtigen Landmaschinen oder – Gott behüte – beim Fahrradfahren ohne Helm. Inhaber eines Helikoptereltern-Pilotenscheins schlagen spätestens jetzt die Hände über dem Kopf zusammen – Geht! Gar! Nicht!
Heutzutage wird zur erfolgreichen Bewältigung des Aufwachsens nichts mehr dem Zufall überlassen. Kein Bürgermeister weiht eine Spielplatz-Schaukel ein, ohne dass der TÜV zuvor eine Spielplatzinspektion nach DIN EN 1176 durchgeführt hat.
Motto: „Für alle Schaukelsitze liegt eine Herstellerbescheinigung vor, dass die folgenden Werte für Beschleunigung und Flächenpressung nicht überschritten werden.“
Diesen Geist einer Vollkasko-Kindheit atmet auch das neue Jugendschutzgesetz, das heute Mittag im Bundestag beraten und beschlossen wird – mutmaßlich Formsache, weil die Groko erkennbar stolz darauf ist. SPD-Familienministerin Giffey hat das Papier ausbaldowert – die CDU-CSU-Fraktion spricht von einem „Update für das Jugendschutzgesetz“ und einem digitalpolitischen Erfolg. Unions-Experte Maik Beermann ist happy: „Angesichts der Gefahren wie Mobbing, Anmache und Abzocke war es uns wichtig, zeitgemäße und wirksame Regelungen zu schaffen.“
Wenn man so will: Das neue Jugendschutzgesetz setzt eine neue DIN-Norm in Kraft, die dafür sorgt, dass zusätzliche Fallmatten auf dem Online-Spielplatz eingezogen werden. Und mit der spürbar aufgewerteten Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz (the Bonner Behörde formerly known as Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien) entsteht nun ein Jugendschutz-TÜV, der Beschleunigung und Flächenpressung von Filmen und Games im Blick hat.
So müssen bei der Altersfreigabe künftig auch „Kommunikations- und Kontaktfunktionen, Mikrotransaktionsfunktionen, glücksspielähnliche oder glücksspielsimulierende Mechanismen wie zum Beispiel Lootboxen, Mechanismen zur Förderung eines exzessiven Mediennutzungsverhalten“ berücksichtigt werden. So will es das Gesetz. Die Idee: Kinder und Jugendliche sollen sich im Netz, in Online-Games und innerhalb von Smartphone-Apps sicher, zumindest: sicherer bewegen können – gegen diesen Plan kann niemand ernsthaft etwas einwenden.
Oder doch?
Die Lobbyverbände von Film, TV, Online und Games widersprechen erwartbar heftig, beklagen eine „verpasste Chance“, halten ihre Anregungen für unberücksichtigt und sehen das Ende des Abendlands zeitigen. Denn selbstverständlich würden die Medienkonzerne den Jugendschutz schon jetzt ultra-ernst nehmen. Was in jedem Fall für die großen Konsolenhersteller gilt, die fein ziselierte Familien-Einstellungen anbieten – was allerdings medienkompetente und technisch versierte Erziehungsberechtigte voraussetzt.
Die Republik ist offenbar voll von solchen Premium-Erziehungsberechtigten: Laut einer Verbands-Umfrage sind 9 von 10 Eltern überzeugt, sie wüssten sehr genau, welche Games ihre Sprösslinge wie lange spielen und mit welchen Alterskennzeichen die Spiele ausgestattet sind. Unpopuläre Vermutung: Hätte man die gleiche Umfrage bei den dazugehörigen Kindern und Jugendlichen durchgeführt, würden die Ergebnisse vermutlich exakt entgegengesetzt ausfallen. Was Papas Kreditkarte verhindert, ermöglicht die Supermarkt-Guthabenkarte.
Spannend wird nun, welche konkreten Konsequenzen das Gesetz in der Praxis für Deutschlands Spiele-Anbieter hat. Der Staat scheint jedenfalls wild entschlossen: Vertrauen ist nice – Kontrolle ist nicer. Falls Sie noch nichts Besseres vorhaben: Die Parlamentsdebatte wird heute ab ca. 13:45 Uhr live auf bundestag.de übertragen.
Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen
Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft
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Sehr geehrtes GW-Team, sehr geehrte Frau Fröhlich,
normalerweise sprechen Sie mir aus der Seele, doch in diesem Fall muss ich widersprechen. Das neue Jugendschutzgesetzt hat viele Ecken und Kanten – in Anbetracht der Geschichte des Themas kein Wunder, man denke nur an den Übereifer beim Index.
Aber: Lootboxen und Gacha-Mechaniken sind nicht nur grenzwertig, sie sind gefährlich. Das hat nichts mit „Vollkasko“ zu tun. Hinter diesen Spielen steckt in der Regel ausgefuchste Psychologie und sehr gezieltes Design – und wie so oft bei Suchtgefährdendem eine gezielte Ansprache von Kindern und Jugendlichen. Eine Bremse auf Gesetztesebene ist daher zu begrüßen.
Eventuell passt das nicht in ihr Narrativ – zuletzt haben Sie ja moniert, der deutsche Beitrag zur Games-Branche speziell im Bereich Mobile werde nicht ausreichend gewürdigt. Bitte verlieren Sie aber nicht aus den Augen, wie in diesem Bereich Geld verdient wird, und zu Lasten welcher Gruppe.
MfG
Vielen Dank für das Feedback. Und ja – selbstverständlich gehören Lootboxen reguliert, mindestens aber transparent ausgewiesen. Nichtsdestoweniger wäre es fatal, wenn Eltern im Vertrauen auf eine intensivere staatliche Aufsicht die weiterhin bestehenden Risiken und Nebenwirkungen ausblenden bzw. unterschätzen. Es wird jetzt sehr genau darauf ankommen, wie das Gesetz in der Praxis ausgestaltet wird. Ggf. führt das neue JuSchG ’nur‘ dazu, dass ein FIFA eine latent höhere Alterseinstufung erhält.
Viele Grüße
Petra Fröhlich
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