Start Meinung FOMO (Fröhlich am Freitag)

FOMO (Fröhlich am Freitag)

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Run auf den Aldi-PC: Ende der 90er bildeten sich lange Schlangen vor den Filialen (Fotos: Aldi Süd)
Run auf den Aldi-PC: Ende der 90er bildeten sich lange Schlangen vor den Filialen (Fotos: Aldi Süd)

Bloß nix verpassen – dieses Gefühl heißt FOMO und wird in In-Game-Münzen gemessen. Die Games-Industrie bangt um ihre Lizenz zum Gelddrucken.

Verehrter GamesWirtschaft-Leser,
verehrte GamesWirtschaft-Leserin,

das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn ist immer eine Reise wert. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören Schätzchen wie Adenauers Dienst-Mercedes, der Steuerreform-Bierdeckel eines gewissen Friedrich Merz und der „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“-Spickzettel von Günter Schabowski, der damit den Fall der Mauer einleitete.

Die Dauerausstellung (öffnet am 9. Dezember nach Umbau) ist auch deshalb so interessant, weil sie den Alltag und das Konsum-Verhalten der Deutschen quer durch die Jahrzehnte abbildet. Nach der Aldi-Süd-Plastiktüte (ja, so was gab’s mal) und einem Original Aldi-Einkaufswagen zieht nun auch ein Exemplar des legendären Aldi-PC in die Sammlung ein. Der wuchtige Tower-PC stammt aus dem Jahr 1997, ist mit Disketten- und CD-ROM-Laufwerk ausgestattet und läuft mit Windows 3.11.

Für Nach-2000-Geborene: Der Aldi-PC war Ende der 90er und um die Jahrtausendwende in etwa so begehrt und umkämpft wie … sagen wir … eine fabrikneue PlayStation 5 während der Corona-Bescherung 2020.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

„Umkämpft“ ist im Falle des Kult-Computers wörtlich zu nehmen – in einigen Fällen musste die Polizei anrücken und schlichten. Ich kann mich noch lebhaft an den Ausnahmezustand erinnern, der sich vor und in den regionalen Aldi-Filialen abgespielt hat.

Schon bei Morgengrauen hatten sich die ersten Kunden vor dem Laden versammelt – penibel drauf achtend, dass sich niemand vor- und reindrängelt. Kaum schoben sich die Eingangstüren zur Seite, kannte der Pulk kein Halten mehr: Verbraucherinnen und Verbraucher gesetzteren Alters schnauzten, raunzten, rempelten sich an. Aus Gründen: Die Kartons auf den Paletten waren oft schon nach wenigen Minuten vergriffen – samt der passenden Röhrenmonitore.

Die Aldi-PCs waren tatsächlich eine kleine Sensation, wie selbst die Fachpresse einräumen musste: Für vergleichsweise kleines Geld (deutlich unter 2.000 DM, später um die 900 bis 1.000 €) gab es einen komplett ausgestatteten, internet-fähigen, wenngleich sperrigen Multimedia-PC, mit allem, was man braucht – inklusive serienmäßigem DVD-Brenner, vernünftiger Grafikkarte, mehreren hundert Gigabyte Festplattenplatz, vorinstallierter Software und einer Wagenladung Zubehör. Mikro, Lautsprecher, Maus, Fernbedienung, all sowas.

Der Aldi-Hoflieferant Medion kam mit Produktion und Lieferung kaum hinterher, so groß war die Nachfrage. Fachhändler und Elektronikmärkte gerieten unter gehörigen Druck – bereits zuvor angeschlagene Ketten wie Vobis oder Escom kollabierten.

Die Zeitungs- und TV-Bilder von außer Rand und Band geratenen Großstädtern, die sich um einen Computer zoffen, hatte einen sich selbst verstärkenden Effekt. Der zuständige Fachbegriff lautet FOMO – Fear Of Missing Out. Also die Angst, gefühlt Einmaliges zu versäumen: ein Taylor-Swift-Konzert, super-streng limitierte Sneaker, den Einstiegspunkt bei Aktien, ein Frühbucher-Schnäppchen. Irgendwas ist ja immer.

In einer Welt des Überflusses ist die Erzeugung von FOMO-Momenten komplizierter geworden: Lange her sind die Zeiten, als sich die Warteschlangen um Häuserblocks wanden, weil im Apple-Store eine neue iPhone-Baureihe an Kunden überreicht wurde. Zuletzt gab es einen solchen Hype im Falle der Dubai-Schokolade. Mal sehen, wie lange man sich ‚Labubu‘ merken muss.

In der Games-Industrie braucht es inzwischen schon eine ausgewachsene Pandemie, um das Gefühl zu erzeugen, man könne ein knappes Gut verpassen. Sicher, die Nintendo Switch 2 war in den ersten Wochen nach Launch schwer oder gar nicht zu bekommen, aber die Lage hat sich rasend schnell entspannt. Selbst Gamescom-Tickets sind bis kurz vor Messe-Start verfügbar.

FOMO wird daher mittlerweile synthetisch hergestellt – zum Beispiel durch In-Game-Angebote. Insbesondere junge Kunden werden durch allerlei Tricks und Finten unter Druck gesetzt, verfügbares Echtgeld umgehend in Taler, Juwelen oder Points umzutauschen, also in Spielwährung. Was zum Beispiel dafür sorgt, sofort weiterspielen zu dürfen – ohne künstliche Warteschleifen.

Solche und andere ‚Dark Patterns‘ sind Industriestandard im Free2Play-Sektor – und ein Geschwür, bei dem die Grenzen zwischen honorigem Game-Design und gezielter Manipulation allzu oft verschwimmen.

Zu diesem Befund kommt zum wiederholten Male die Stiftung Warentest, die populäre Mobilegames durchleuchtet hat – Monopoly Go, Clash of Clans, Gardenscapes, Candy Crush Saga et cetera pp. Ergebnis: 16 von 16 getesteten Spielen fallen durch – unter anderem deshalb, weil gerade auf minderjährige Nutzer massiver Kaufdruck ausgeübt wird.

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte im Sommer der Bundesverband der Verbraucherzentralen – der deshalb nicht nur Roblox verklagt, sondern gemeinsam mit weiteren internationalen Verbänden eine Beschwerde bei der Europäischen Kommission eingereicht hat.

Die EU will ihrerseits Auswüchse im Wege des Digital Fairness Act ausbremsen und regulieren – mit dem kompletten Besteckkasten der guten Laune: maximale Transparenz, Widerrufsrecht, Schutz vor „süchtig machendem Design“. Kurzum: Die EU sagt digitalem FOMO den Kampf an.

Gegen drohendes Unheil rührt sich prominenter Widerstand: In dieser Woche hat Ilkka Paananen einen Offenen Brief veröffentlicht. Darin raunt der Chef der finnischen Tencent-Tochter Supercell, die Brüsseler Wettbewerbshüter würden in ihrem Regulierungs-Wahn eine der wenigen Tech-Erfolgs-Storys Europas zerstören – nämlich Games.

Als Kronzeuge führt er gleich im ersten Satz The Witcher an – ausgerechnet. Paananen ist Profi. Man darf daher von einem vorsätzlichen Nebelkerzenwurf ausgehen.

Was aber zeigt, wie ernst die Lage ist. Für das Clash of Clans-Studio und weitere Akteure geht es um eine Menge Geld: 99 von 100 $/€, die für Mobilegames ausgegeben werden, gehen auf das Konto von Free2Play. Und zwar buchstäblich: Allein Deutschlands Verbraucher haben 2024 rund 4,6 Milliarden Euro für In-Game- und In-App-Käufe ausgegeben.

Dass wir hier ein Thema haben, ist der Industrie vollumfänglich bewusst. Die USK kennzeichnet Spiele mit dem Hinweis „Erhöhte Kaufanreize“, wenn zum Beispiel „unübersichtliche In-Game-Shops“ mit mehreren In-Game-Währungen, käufliche Spielvorteile (Pay2Win, Pay2Skip) oder aufdringliche Hinweise auftreten, etwa ein anlassfreier Jetzt-oder-nie-Timer.

Auch der Bundesdrogenbeauftragte und mehrere Bundesländer sehen Handlungsbedarf. So heißt es im druckfrischen Koalitionsvertrag für Deutschlands Free2Play-Hauptstadt Hamburg auf Seite 116: „Wir setzen uns für ein höheres Maß an Transparenz, eine voreingestellte Drittanbietersperre und Deckelung der Kaufsumme bei In-App und In-Game-Käufen ein.“

Vor der Branche liegen entscheidende Wochen und Monate, heißt es unisono. Denn selbst nach Abzug erwartbarer Lobby-Krokodilstränen spricht viel dafür, dass ein komplettes Geschäftsmodell im Feuer steht: Viele Unternehmen müssten sich und ihre Produkte neu erfinden – mit zwangsläufigen Auswirkungen auf Belegschaften und Investitionen.

Auf die ohnehin angeschossene Games-Branche könnte eine verschärfte Regulierung daher ähnlich verheerend wirken wie das kolportierte ‚Verbrenner-Aus‘ in der Auto-Industrie, die ja ebenfalls um ihre Margen fürchtet – und die am liebsten einfach so weitermachen möchte wie bisher, ohne dass sich Brüssel einmischt.

Sollte die EU trotz aller Warnungen und Proteste stur bleiben, könnten spätestens 2035 zwei neue Exponate im Bonner Haus der Geschichte auftauchen: ein schöner 2-Liter-Hubraum-Golf – und ein Beutelchen mit Forge of Empires-Diamanten.

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft


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