Start Meinung Spielzeit: Wie viel ist zu viel? (Fröhlich am Freitag)

Spielzeit: Wie viel ist zu viel? (Fröhlich am Freitag)

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DAK-Studie: Die Bildschirm-Spielzeit bei Kindern und Jugendlichen wächst (Foto: DAK-Gesundheit / iStock)
DAK-Studie: Die Bildschirm-Spielzeit bei Kindern und Jugendlichen wächst (Foto: DAK-Gesundheit / iStock)

Neues aus der Abteilung „Mach endlich die Flimmerkiste aus – du kriegst noch viereckige Augen“: Die Bildschirm-Spielzeit von Kindern bleibt auf hohem Niveau.

Verehrte GamesWirtschaft-Leserin,
verehrter GamesWirtschaft-Leser,

die Krankenkasse DAK hat gestern das getan, was sie seit mehreren Jahren tut: Alarm schlagen. Denn Kinder und Jugendliche verbringen laut Dauer-Studie sehr viel Zeit vor PC, Smartphone und Konsole. Genauer: zu viel Zeit. Immer noch.

Dass der Netflix-, YouTube-, TikTok-, Games-Konsum in den Lockdown-Phasen gestiegen ist – geschenkt. Womit hätten sich die Kids auch sonst die Zeit um die Ohren schlagen sollen, wenn Sport- und Freizeitbeschäftigungen über Monate hinweg ausfallen? Irgendwann sind Mau-Mau und Mensch-ärgere-dich-nicht eben durchgespielt.

Die eingepreiste Hoffnung lautete, dass sich die Videospiele- und Social-Media-Nutzung wieder auf ein Vor-Lockdown-Niveau einpendelt. Doch das Pensum mäandert auf hohem Niveau. Immerhin: Zwei Drittel der 10- bis 17jährigen weisen aus Sicht der Forscher ein normales, also unauffälliges Spielverhalten auf: Sie haben die Sache im Griff. Bei roundabout jedem zehnten Nutzer spricht man von einer „riskanten“ Nutzung – und bei 4 Prozent wird’s pathologisch. Das sind 220.000 Kinder. Die Zahl wächst.

Besonders gefährdet: die Jungs in der Blüte der Pubertät.

Fröhlich am Freitag - die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft
Fröhlich am Freitag – die wöchentliche Kolumne bei GamesWirtschaft

Die Bundesdrogenbeauftragten – einst Mortler, derzeit noch Ludwig, beide CSU – nehmen solche Zahlen zur Kenntnis und tun ebenfalls das, was sie seit Jahren tun: Alarm schlagen, die Stirn in Falten legen und erstmal mehr Medienkompetenz einfordern. Vorteil: Kostet nix, tut niemandem weh und wirkt so, als habe man einen Plan – und am Ende werden wieder Flyer gedruckt. Abteilung „Wir machen das mit den Fähnchen“.

Spoiler: Wer Spielzeit per se für problematisch erachtet, wird daran mit bunten Broschüren wenig bis nichts ändern.

Denn Politik, Eltern, Pädagogen und Ärzte haben einen (über)mächtigen Gegner: Live Operations, kurz LiveOps. Nichts wäre schlimmer, als wenn jede Ecke der Spielwelt erkundet wäre und es nichts mehr zu tun gäbe. Deshalb werden die Spieler von Studios und Publishern mit Content zugeworfen, teils kostenlos, teils kostenpflichtig. Das Ziel: Halte die Kundschaft so lange wie möglich im ‚Loop‘.

Warum? Weil Spielzeit für Spielehersteller eine eminent wichtige Währung darstellt:

  • Der jüngste Ubisoft-Quartalsbericht frohlockt, dass die Spieler 25 Prozent mehr Zeit in Far Cry 6 verbringen als in Far Cry 5.
  • Die erfahrbare Welt des Xbox-Rennspiels Forza Horizon 5 ist 50 Prozent größer als in Forza Horizon 4 – schon am Tag der Veröffentlichung besteht der Fuhrpark aus über 400 Modellen.
  • Das ‚Engagement‘ im FIFA 22 Online-Modus FIFA Ultimate Team (der mit den Lootboxen) ist um 15 Prozent gegenüber Vorjahr gestiegen.

Dass sowas von sowas kommt.

Geradezu mustergültig lässt sich die Mechanik beim Gratis-Spiel Fortnite besichtigen: Das Multiplayer-Spiel erfindet sich im Quartalsrhythmus neu – mit immer neuen Modi, Figuren, Kostümen, Kooperationen.

Das Absteigen vom Fortnite-Karussell ist schlicht nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Das Karussell rotiert immer schneller. Jetzt wieder mit dabei sein, die nächste Fahrt geht rückwärts.

Die Zahnpasta ist aus der Tube. Kein Spielehersteller wird freiwillig kompaktere Spiele bauen, geringere Anreize für stetes Weiterspielen setzen oder weniger In-Game-Events ausrichten. Ranglisten, Letsplays, Erfahrungspunkte und nie enden wollende Kaskaden an Belohnungen ergeben eine klebrige, verführerische Melange, an der gerade junge Menschen hängen bleiben.

Was also tun? Längst gibt es die Möglichkeit, die Bildschirm-Spielzeit von Kindern und Jugendlichen per App filigran zu steuern und zu begrenzen – also eine Art GPS-Peilsender. Doch das System hat Tücken und Lücken. So segensreich die Tools mit Blick auf In-Game-Ausgaben-Kontrolle sein mögen: Im Zweifel rottet sich die Truppe eben beim Kumpel zusammen.

Ich bin mir sicher: Würde man Eltern am Ende ihres pädagogischen Lateins fragen, sie würden wohl mehrheitlich das Modell China präferieren, das sich gar nicht erst mit Medienkompetenz-Gedöns aufhält, sondern in seiner Wirkung und Kreativität dem stumpfen Einkassieren des WLAN-Routers gleichkommt. Dort wurde nämlich die Online-Spielzeit von Kindern kürzlich nochmal per Gesetz nachgeschärft auf maximal 3 Stunden – nicht pro Tag, sondern pro Woche, und auch nur am Wochenende. Auf dass sich die Schulnoten wieder erholen.

An welchem Tag diese Entscheidung bekannt gegeben wurde, können Sie relativ präzise am wegkippenden Aktienkurs des chinesischen Marktführers Tencent ablesen. Die kommerziellen Interessen der Videospiele-Industrie verlaufen nun mal diametral entgegengesetzt zu den Interessen von Erziehungsberechtigten, Jugendschützern und Krankenkassen – allen Sonntagsreden zum Trotz.

Ich finde: Wer Digitales in der Lebenswelt von Kindern limitieren, ausbremsen oder gar verbannen will (während ja gleichzeitig in ungefähr allen anderen Lebensbereichen das exakte Gegenteil passieren soll), muss zunächst mal für attraktivere analoge Alternativen sorgen. Und vor diesem Hintergrund ist es auch bedingt hilfreich, wenn der örtliche Fußballverein eine gemeinnützige FIFA 22-Abteilung eröffnet, wie sich die E-Sport-Branche das dringend wünscht.

Die beruhigende Nachricht für die Unions-Drogenbeauftragte: Mit Blick auf die Bildschirmzeit hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Nicht auszudenken, wenn Parteifreund Scheuer in seiner Amtszeit bei Breitbandausbau und Mobilfunknetz-Abdeckung signifikant vorangekommen wäre.

Und zur Wahrheit gehört auch: Während des Lockdowns wäre das deutsche Bildungssystem ohne die digitalen Kompetenzen junger Menschen ziemlich aufgeschmissen gewesen. Irgendjemand muss den Boomern ja erklären, wie man ein PDF ausdruckt.

Ein schönes Wochenende wünscht Ihnen

Petra Fröhlich
Chefredakteurin GamesWirtschaft

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