Start Meinung 15 Jahre nach Erfurt: So hat sich die Branche verändert

15 Jahre nach Erfurt: So hat sich die Branche verändert

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Die gefühlt beendete Killerspiele-Debatte ist nach dem Amoklauf von München wieder aufgebrandet. (Screenshot: Ubisoft)
Die gefühlt beendete Killerspiele-Debatte ist nach dem Amoklauf von München wieder aufgebrandet. (Screenshot: Ubisoft)

Der Amoklauf am Guttenberg-Gymnasium zu Erfurt jährt sich 2017 zum 15. Mal. Die Republik hat sich seit diesem Tag verändert – auch die Welt der Computerspiele, samt Deutschem Computerspielpreis.

Der 26. April 2002 hat sich in das kollektive Gedächtnis des Landes eingebrannt wie nur wenige andere Ereignisse der jüngeren deutschen Geschichte. Zwölf Lehrerinnen und Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin und ein Polizist wurden vom 19jährige Robert Steinhäuser an jenem Tag im April 2002 kaltblütig ermordet, bevor er sich selbst erschoss.

Zu den perversen Begleiterscheinungen solcher Tragödien gehört, dass Name und Foto des Täters bis heute geläufig sind, weil sie ARD-Brennpunkte, Talkshows und Titelseiten zu Personen des Zeitgeschehens adeln, während die Opfer und ihre Familien schnell wieder „unsichtbar“ werden – siehe der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, das Massaker auf der norwegischen Insel Utoya oder der Amoklauf in Winnenden.

Notfallpläne, Waffengesetze, Psychologen: Der Amoklauf von Erfurt und die Folgen

Bis zu diesem Tag im April 2002 kannte man das Phänomen des „school shootings“ allenfalls aus den Nachrichten, vornehmlich aus den USA. Die Tat hat Deutschland, Thüringen, Erfurt, das dortige Gymnasium, ja, unsere Gesellschaft verändert. Es gibt ein Deutschland „vor Erfurt“ – und jenes danach.

Seitdem existieren an vielen Schulen ganz konkrete Notruf- und Einsatzpläne, flächendeckende Lautsprecheranlagen samt codierter Warndurchsagen und von innen verriegelbare Klassenraumtüren. Das Einüben von Amoklauf-Szenarien gehört heute zur Ausbildung von Polizisten, die im Ernstfall sofort handeln sollen und nicht mehr auf das Eintreffen der Spezialeinheiten warten müssen.

Doch all diese Maßnahmen greifen natürlich erst zu einem Zeitpunkt, wenn der Täter bereits unterwegs ist. Viel entscheidender war ja die Frage, wie ein weiteres Erfurt schon im Vorfeld zu verhindern sei. Länder und Kommunen haben daher zusätzliche Schulpsychologen eingestellt (oder diese Jobs überhaupt erst geschaffen) und zum Beispiel auch die Schulgesetze dahingehend geändert, dass Thüringer Gymnasiasten mit dem Erreichen der zehnten Klasse zumindest die mittlere Reife in der Tasche und damit eine Perspektive haben.

Alarmiert durch die Amokläufe in Erfurt und Winnenden hat der Bundestag mehrfach das Waffengesetz verschärft – wenn auch nur in Teilbereichen und stets unter massivem Protest von Jägern, Sportschützen und deren mächtigen Verbänden, die ihr gottgegebenes (oder zumindest gesetzliches) Recht auf privaten Besitz von Pistolen und Flinten nicht leichtfertig verspielen wollten.

Die PR-Kampagnen der Waffen-Lobby sind Lehrstücke politischer Meinungsbildung – Kernbotschaft: Millionen rechtschaffener, friedlicher und noch dazu wahlberechtigter Waffenbesitzer würden vom Gesetzgeber diskriminiert.

Neues Jugenschutzgesetz im Eilverfahren

In den Tagen, Wochen und Jahren nach Erfurt tobte bekanntlich auch eine erbittert geführte Diskussion um die Wirkung von gewalthaltigen Filmen und Computerspielen, die der Journalist Christian Schiffer in seiner sehenswerten „Killerspiel“-Dokumentations-Trilogie für das ZDF präzise nachgezeichnet hat. Im Eilverfahren wurde im Sommer 2002 das Jugendschutzgesetz samt Jugendmedienstaatsvertrag geändert.

Seitdem gilt die verpflichtende Alterskennzeichnung von Computerspielen – zuvor handelte es sich um ein freiwilliges Verfahren: Die in Berlin ansässige Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) prüft und entscheidet bis heute, ob ein Rollenspiel zum Beispiel ab 16 oder 18 Jahren freigegeben ist. Letzten Endes liegt die Verantwortung natürlich trotzdem bei den Eltern, die familienintern klären müssen, ob der 13- oder 14jährige Sprössling die sittliche Reife für „Grand Theft Auto 5“ oder „Call of Duty“ aufbringt.

Fifty-Fifty-Entscheidung vor 15 Jahren: Landet Counter-Strike auf dem Index?

Wie es der Zufall wollte, stand im Mai 2002 – also nur einen Monat nach Erfurt – auch die Entscheidung über eine mögliche Indizierung des bis heute unfassbar populären Multiplayer-Shooters „Counter-Strike“ auf der Tagesordnung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BpjM, damals BpjS).

Unter dem (Ein-)Druck der Ereignisse standen die Chancen fifty-fifty: Selbst der damalige Pulisher Vivendi-Universal und das Gros der Spielefans rechnete mit dem – aus ihrer Sicht – Worst-Case. Das Zwölfergremium entschied zur großen Überraschung: „Counter-Strike“ wird nicht indiziert. Aufatmen auf der einen, Entsetzen bei der Gegenseite: Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach von einem „völlig verkehrten Signal“, aus Bayern kamen wie üblich noch deutlich schärfere Töne.

Und heute? Angesichts der jüngsten USK-Bescheide ist kaum noch ein Spiel vorstellbar, das das „Zeug“ dazu hat, auf dem Index zu landen. Selbst Titel wie „Dead Rising 4“ schaffen es mit anwaltlicher Unterstützung durch die Gremien – vor 15, zehn, fünf Jahren völlig undenkbar. Klassiker wie „Doom“ sind dank Ent-Indizierungsverfahren wieder frei erhältlich.

Die seit Erfurt eingebrachten Bundesrats-Anträge, Parteivorstandsbeschlüsse und Gesetzesinitiativen hätten leicht dazu führen können, Ego- und Multiplayer-Shooter oder Action-Adventures flächendeckend aus den Regalen zu nehmen. Wären die Dinge an der einen oder anderen Stelle in dieser Zeit minimal anders gelaufen – wer weiß, wie die Welt der Computerspiele in Deutschland heute aussähe.

Zwar machen Erwachsenen-Spiele in der alljährlichen USK-Statistik nur ein paar Prozent aus – kommerziell sind sie aber erfolgreicher denn je: 13 der 20 Bestseller des Jahres 2016 sind ab 16 oder 18 Jahren freigegeben.

Die meistverkauften PC- und Konsolenspiele des Jahres 2016 im Überblick.
Die meistverkauften PC- und Konsolenspiele des Jahres 2016 im Überblick.

Deutscher Computerspielpreis 2017: So haben sich Preis und Branche verändert

Wenn am heutigen 26. April 2002 – gleichzeitig der 15. Jahrestag des Erfurter Amoklaufs – der Deutsche Computerspielpreis in Berlin verliehen wird, dann ist das auch ein Anlass, um bei allen frag- und diskussionswürdigen Branchen-Entwicklungen festzuhalten: Die ausgefochtenen Debatten über Gewalt in Computerspielen waren richtig, sie waren wichtig und sie bleiben wichtig. Was als „jugendgefährdend“ oder „zumutbar“ gilt, das muss eine Gesellschaft permanent neu verhandeln.

Natürlich liegt weiterhin Vieles im Argen, zum Beispiel mit Blick auf den Online-Markt: Aus guten Gründen fordert der Branchenverband BIU im Vorfeld der Bundestagswahl eine „ganzheitliche Reform des Jugendmedienschutzes“.

Gerade die Historie des Deutschen Computerspielpreises samt ihrer kleinen und großen Skandale zeigt wie unter einem Brennglas, dass es manchmal eben etwas Geduld braucht, damit sich die Dinge in die richtige Richtung entwickeln. Zur Erinnerung: Es ist erst sieben Jahre her, dass sich die eilig nachnominierte, internationale Version von „Anno 1404“ regelwidrig aus politischen Gründen gegen harmlose USK-16-Spiele wie „Uncharted 2“ durchzusetzen hatte.

Diese Zeiten sind seit der Regelreform 2015 glücklicherweise vorbei: Gäbe es in diesem Jahr einen preiswürdigen Ab-18-Shooter made in Germany, dann dürfte er nicht nur antreten, er hätte sogar gleiche Chancen wie der Rest des Bewerberfeldes. Auch in den internationalen Kategorien finden sich ganz selbstverständlich nominierte Titel wie „Battlefield 1“, „Overwatch“ oder „Uncharted 4“.

Über die Autorin:

Petra Fröhlich ist Gründerin und Chefredakteurin von GamesWirtschaft und seit vielen Jahren Jurorin des Deutschen Computerspielpreises.

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